Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (1994) (92)

zu machen... Erst als die Ingenieure die führende Rolle in der Baukunst übernehmen, entsteht eine wirklich entwicklungsfähige Neugotik, deren For- menschatz ebensogut dekorativ wie konstruktiv verstanden wird.»48 Leonardo Benevolo beschreibt die weitere Entwick- lung in der «Geschichte der Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts» wie folgt: «In der damaligen Bautätigkeit stiftet der Streit zwischen Klassizisten und Neogotikern vor allem Verwirrung. Solange es nur einen Stil gab, den es nachzuahmen galt, wur- de der konventionelle Charakter dieser Nachah- mung nicht offenbar, und das Eingehen auf seine Formen war überzeugter. Jetzt aber, da es so viele Stile gibt, kommen Unsicherheit und Zweifel auf; man beginnt, den Stil als eine dekorative Verklei- dung anzusehen, die man, je nach dem Zweck, ei- nem beliebigen Bauschema verpasst, und man sieht auch Bauten, die jeglicher stilistischen Ver- kleidung entbehren; insbesondere Landhäuser, bei denen die konstruktiven Bauteile ausserhalb jeg- licher Kontrolle der Komposition brutal vorgeführt werden.»49 «Die Polemik zwischen Klassizismus und Neugo- tik... kann naturgemäss nicht mit dem Sieg des einen oder anderen Programms enden. Von nun an halten sich die Architekten sowohl an den klassi- schen wie an den gotischen Stil als mögliche Alter- nativen, und natürlich nicht nur an diese beiden Stile allein, sondern auch an den romanischen, by- zantinischen, ägyptischen, maurischen Stil, an den der Renaissance und andere. So entsteht und verbreitet sich die Haltung, die Ek- lektizismus (eklektisch: aus anderem zusammenge- stellt, unschöpferisch, Anm. d. Verf.) genannt wird und potentiell schon in der retrospektiven Tendenz der Klassizisten und Romantiker enthalten ist. Be- günstigt wird der Eklektizismus durch die bessere Kenntnis der Bauten jedes Landes und jeder Epo- che ... Die ersten Weltgeschichten der Architektur kommen in Umlauf...Für die Philosophen ist die- ser Aspekt der Kunstgeschichte eine Aufeinander- folge gleichwertiger Stile; Hegel versuchte, den Ab- lauf der Stile dialektisch als eine Aufeinanderfolge von Thesis, Antithesis und Synthesis zu interpretie-ren 
und war der Auffassung, der Kreis habe sich jetzt geschlossen; daher empfiehlt er abschliessend seinen Zeitgenossen den Eklektizismus.»50 Pevsner stellt mit aller Deutlichkeit fest, «dass man von Historismus nur sprechen kann, wo mehr als ein Stil als Vorbild anerkannt wird, das heisst, wo es sich um das handelt, was Viollet-le-Duc Pluralis- mus nennt. Wenn sich Brunnelleschi am SS. Apo- stoli und der Architekt der Villa Madonna an römi- sche Thermen hält, so ist das nicht Historismus.»51 Auch muss nach Pevsner «Eklektizismus» streng von «Historismus» gesondert werden. Er be- schränkt die Beziehung Eklektik «auf Versu- che. . .für ein Gemälde, für ein Bauwerk aus meh- reren Quellen zu schöpfen, in der Hoffnung, eine Synthese erreichen zu können? Historismus dage- gen lässt sich für verschiedene Kunstwerke zu ver- schiedenen Zeiten inspirieren».52 Die wahlweise Anwendung, Abwandlung und Kombination der jeweils geeigneten Elemente ver- schiedener historischer Stile erleichtert einerseits die Anpassung an neue Bauaufgaben und neue Konstruktionen. Andererseits gelingt nur selten die volle Durchdringung mit der Technik. Die auf ganz anderen technischen und geistigen Grundlagen ge- wachsenen Epochenstile sinken zur willkürlichen Dekoration herab. Vogt hält dann auch fest: «Die Freiheit der Stilwahl erscheint uns deshalb als problematisch, weil sie einen singulären Einbruch der Geschichtlichkeit in die Gegenwart bedeutet...Wenn das 19. Jahrhun- dert klassisch-griechisch oder neugotisch baut oder malt oder zeichnet, dann erzeugt es die Art ohne die Weise. Es erzeugt zwar die gleiche Form, aber mit anderer Methode; es erreicht das gleiche Resul- tat, aber mit einem anderen Herstellungsprozess. Darin liegt die unüberwindliche Grenze jedes Hi- storismus.»53 Charles Robert Cockerell, ein Archäologe, schreibt 1822: «Die Idee, ein Faksimile eines existierenden alten Gebäudes zu errichten, ist eine Idee, mit der ich mich nicht anfreunden kann. Denn die vereh- rungswürdigen Meisterwerke eines Zeitalters kann man nie für das Bauen eines anderen Zeitalters verwenden . . . Die Grösse der besten griechischen, 312
	        

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