Langsame Entwicklung des Gewerbes
Gewerbebetriebe gab es zu Beginn des Jahrhunderts kaum. «Der
Handwerksmann ist nur auf den Verdienst, den er sich im Lande
orwirkt, beschränkt, und weil dieser äuserst unbedeutend ist, kann
sich der Gewerbsmann blos mit seinem Gewerbe nicht durchbringen».
schrieb Landvogt Joseph Schuppler im Jahr 1815.'* Das Fehlen hand-
werklicher Vielfalt war eine Folge der bäuerlichen Monokultur: Der
Absatz an Gewerbeprodukten im Inland war gering, zudem fertigten
die Bauern viele Kleidungsstücke und Gerätschaften selbst an. Die
Erschliessung ausländischer Märkte war nicht möglich, da Liechten-
stein — in Anlehnung an die Aussenpolitik Österreichs - dem deutschen
Zollverein von 1834 nicht beigetreten und daher vom Handel mit den
Ländern des Deutschen Bundes isoliert war. Auch Ausfuhren nach
Österreich waren mit Zöllen belastet.
Der niedrige Entwicklungsstand des Gewerbes führte mit zuneh-
mendem Bevölkerungswachstum auch zu einem dramatischen Mangel
an Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten. Seit dem frühen 19. Jahrhun-
dert verliessen jährlich etwa zehn Prozent der Bevölkerung ihre Hei-
mat, um als Saisonniers zu arbeiten. «Auf das Mauerer- und Zimmer-
mannsgewerbe verlegen sich viele, hiebei finden sie noch ihre beste
Rechnung, sie gehen beim Beginne des Frühjahres nach der Schweiz,
Frankreich oder Schwaben, oder dorthin, wo es was zu verdienen
giebt, bleiben bis zum Spätherbste aus während dem sie um Lohn als
Gesellen, Lehrjungen, oder auch nur als Taglöhner arbeiten, und keh-
ren dann mit dem sich erworbenen Verdienst nach ihrer Heimath
zurück, wo sie den Winter hindurch bleiben, und im folgenden Früh-
jahre die Reise wiederholen. Selbst viele erwachsene, und junge zu
Hause entbehrliche Leute, und Kinder, die kein Handwerk kennen,
wandern im Frühjahre nach Schwaben, trachten dort als Knechte, Hir-
ten oder Taglöhner unterzukommen 13
Späte Industrialisierung
Auch für eine industrielle Entwicklung, wie sie in der Schweiz und in
Vorarlberg in den dreissiger Jahren einsetzte, fehlten in Liechtenstein
aufgrund der Zollschranken die Voraussetzungen. Erst der Zollvertrag
mit Österreich von 1852 brachte eine Verbesserung der handelspoliti-
schen Situation. Liechtenstein war durch diesen Vertrag in den gros-
sen österreichischen Wirtschaftsraum einbezogen, eine Tatsache, die
sich zu Beginn vor allem schweizerische Textilfabrikanten zunutze
machten: Um die österreichischen Schutzzölle zu umgehen, verlegten
sie die Produktion für dieses Absatzgebiet nach Liechtenstein. Der
arste Betrieb wurde 1861 gegründet und beschäftigte zu Beginn 21
Arbeiter. 1874 standen drei Betriebe mit insgesamt 250 Arbeitern, und
Liechtenstein im 19. Jahrhundert