Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (1991) (89)

berger urteilte als Zeitgenosse über Grass, den er gut gekannt hatte. Der Schwerpunkt seiner ärztlichen Tätigkeit lag wohl bei den inneren Erkrankungen, wo er seine diagnostischen Fähigkeiten besonders gut zur Gel- tung bringen konnte. Als praktischer Arzt musste er sich aber auch chirurgisch betätigen, was, wie wir schon bei Gebhard und Karl Schädler sahen, ein grosses Können, das nötige Geschick und eine ungebrochene Einsatzfreudigkeit erforderte. Dass Dr. Grass auch geburtshilflich tätig war, ergibt sich aus den Eintragungen im Taufbuch der Pfarrei Triesenberg.424 Dort sind etliche Nottaufen ver- merkt, die Dr. Grass in den Jahren zwischen 1817 und 1833 vorgenommen hatte. Später zog sich dann Dr. Grass von der Ausübung der Geburtshilfe zurück und überliess diese beschwerliche Arbeit den Jüngeren. Interessant ist, dass weder Dr. Ludwig Grass noch Dr. Karl Schädler Nottaufen «in utero matris», also mit der Taufspritze vorgenommen haben, wohl ein Zeichen des zunehmenden Wissens um Hygiene und Antisepsis, sicher aber auch eine Folge ihrer aufgeklärten Einstellung. Man darf von der Art und dem zahlenmässigen Verhältnis der Nottaufen in Triesenberg analog auf die anderen Gemeinden des Landes schliessen. So finden wir eine gute Übereinstimmung mit der Zahl der gestorbenen Neugeborenen und der totgebore- nen Kinder, wie sie Martin Risch425 für Triesen ermittelt hat. Im Jahre 1820 war in Chur die «Medizinische Gesellschaft in Graubünden», auch «ärztlicher Ver- ein» genannt, gegründet worden.426 Dr. Ludwig Grass trat dem Verein zusammen mit Gebhard Schädler schon im Gründungsjahr 1820 bei.427 In der Jahresversammlung vom Dezember 1821 be- richtet Grass über «einen Gallenstein» und über «ein incrustiertes Kirschlein in der Hygmorshöhle». Es fällt auf, dass Grass bei den Versammlungen sehr oft fehlte. Im Mai 1829 trat er aus der Gesellschaft aus.428 Aus einem Brief429 erfahren wir einiges Wenige über das private Leben von Dr. Grass. Grass war ja Junggeselle geblieben. In der Zeit um 1830 verkö-stigte 
er sich in der Taverne zum «Adler».430 Dies war sehr bequem für ihn, lag doch der «Adler» unmittelbar neben seinem Wohnhaus. Die Wirts- hauskost scheint ihm dann aber doch verleidet zu sein, so dass Johann Peter Rheinberger dem ehe- maligen Landvogt Peter Pokorny 1834 die Neuigkeit mitteilen konnte: «Hr. Dr. Grass hat wieder seine eigene Kuchel eröffnet und Frau Rentmeisterin war so grossmüthig, ihm ihre Katharina abzutretten.» Aus weiteren Quellen ergibt sich, dass Grass ein Pferd und einen Hund besass und zu jener Zeit auch regelmässig zur Jagd ging.431 Dr. Grass war ein geselliger Mensch, der wohl kaum Feinde unter seinen Mitbürgern hatte. Da- durch, dass er es allen recht machen wollte, lag es ihm auch nicht, sich gegen eine kollektive Meinung zu stellen, selbst wenn er es besser wusste. Für diese nur allzu menschliche Charakterseite erzählt David Rheinberger432 ein Beispiel: «Anno 1846 traf unerwartet ein grosses Unheil ein. Am Peter-und- Paul's-Tag früh brach der Rhein unvermutet ober- halb Vaduz herein, und zwar nur bei ganz gewöhn- lichem Wasserstand, weil der Strom unbeachtet eine ganz unglückliche Wendung genommen hatte und senkrecht auf das ungeschützte und unbewach- te Ufer fiel. Weil nun jemand an dem Unheil schuld sein musste und der Vater433 damals mit den Rheinwuhrbauten betraut war, so lag es am näch- sten, dass ihm vom Volke die Schuld daran in die Schuhe geschoben wurde. Die Vaduzer, um sich vor den anderen Gemeinden reinzuwaschen, logen denselben vor, sie hätten am Tage vor dem Ein- bruch noch die durchbrochene Stelle schützen wollen, allein der Rentmeister hätte sie davon abgehalten, während am besagten Tage kein einzi- ger Vaduzer am Wuhrbau beschäftigt war, da Vater am selben Morgen krank im Bette lag und Dr. Grass ihn am Morgen besuchte und ihm ein Brechmittel verordnete. Am selbigen Tag abends kam auch Kirchthaler zu ihm und traf ihn noch im Bett. Dr. Grass hörte diese Lügen am Rhein selber aufti- schen, er wusste am besten, dass es Lügen waren, und dennoch getraute er sich nicht, dem Volke gegenüber der Wahrheit die Ehre zu geben und den Lügner als solchen hinzustellen ...» 84
	        

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