Volltext: Grundrechtspraxis in Liechtenstein

Gegen das Verständnis des Anspruchs auf rechtliches Gehör als Minimalstandard kann eingewendet werden, dass selbst dieser 
«Mini- malstandard»nicht in allen Verfahren gleich definiert ist. So unterliegt der Anspruch auf rechtliches Gehör beispielsweise in Provisorialverfah- ren oder im Exekutionsverfahren Einschränkungen; das Gleiche gilt für das Untersuchungsverfahren im Strafverfahren. Er garantiert Verfah- rensbetroffenen die Möglichkeit, 
in allen Verfahren zu allen Punkten Stellung nehmenzu können.113Meines Erachtens geht der Anspruch auf rechtliches Gehör, wie es dem Verständnis des Staatsgerichtshofes ent- spricht, daher weit über einen Minimalstandard hinaus und besitzt einen umfassenden sachlichen Gewährleistungsbereich. Darüber hinaus hat der Staatsgerichtshof zahlreiche Teilgehalte des Anspruchs auf rechtli- ches Gehör konkretisiert. Aufgrund dieses umfassenden sachlichen Ge- währleistungsbereiches spricht nichts dagegen, dass die im Bereich der Freiheitsrechte entwickelten Eingriffsschranken (gesetzliche Grundlage, öffentliches Interesse, Verhältnismässigkeit und Wahrung der Kernge- haltsgarantie) auch auf den Anspruch auf rechtliches Gehör angewendet werden. In diese Richtung weist nicht zuletzt die Rechtsprechung des Staats gerichtshofes. Er hat im Sinne einer «geltungszeitliche[n] Inter- pretation der Schrankennormen der Landesverfassung im Lichte eines modernen Grundrechtsverständnisses»114die komplizierte Schranken- systematik der Landesverfassung durch die Annahme materieller 589 
Anspruch auf rechtliches Gehör gen des Art. 36 BV zwar nur auf die Freiheitsrechte anzuwenden sind, dass aber auch andere Grundrechte nur je nach eigenen Grundsätzen eingeschränkt werden können. Differenzierend auch Keller, Garantien, Rz. 53, wonach die in Art. 36 BV verankerten Kriterien für die Einschränkung von Grundrechten grundsätzlich aus- schliesslich für die Freiheitsrechte zur Anwendung kämen, aber bei den Verfahrens- grundrechten zu unterscheiden sei. So gebe es bei den Verfahrensgrundrechten Teil- gehalte, bei denen Schutzbereich und Kerngehalt zusammenfallen würden und eine Einschränkung dieser Teilgehalte deshalb nicht in Betracht käme. Demgegenüber könnten Teilgehalte, für die dies nicht zutreffen würde, nach den allgemeinen Kri- terien eingeschränkt werden. Vgl. dagegen Schefer Markus, Die Beeinträchtigung von Grundrechten. Zur Dogmatik von Art. 36 BV, Bern 2006, S. 9 ff., welcher die Eingriffsvoraussetzungen von Art. 36 BV auf alle Grundrechte anwendet, wobei für die Verfahrensrechte aber eine modifizierte Prüfung erfolgt. 113Vgl. StGH 2011/69, Urteil vom 1. Juli 2011, nicht veröffentlicht, S. 18, Erw. 2.2.1. Siehe dazu auch oben Rz. 10 und 17. 114StGH 1997/19, Urteil vom 5. September 1997, LES 1998, S. 269 (274).36 37
	        

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