Religionsfreiheit
1. Art. 39 5. 2
Schon an anderer Stelle ! wurde darauf hingewiesen, daß die Bestim-
mung des Art. 39 S.2 besagt, daß das religiöse Freiheitsrecht bei
einer Kollision mit den Staatsbürgerpflichten — eine solche ist etwa
in Art. 44 statuiert — hinter diesen zurückzutreten hat. Dies läßt sich
trotz des unklaren Wortlautes aus Satz 2, der in einer notwendigen
inneren Abhängigkeit zu Satz 1 des Artikels 39 steht, herauslesen. Das
Religionsbekenntnis kann also niemanden von der Erfüllung staats-
bürgerlicher Pflichten entbinden, da diese von Verfassungs wegen
den Vorrang genießen. Diese Norm bringt einen Vorbehalt zum
Grundrecht der Bekenntnis- und Kultusfreiheit an.
2. Der Vorbehalt polizeilicher Beschränkung
Das Grundrecht der Bekenntnis- und Kultusfreiheit ist unter dem
Vorbehalt polizeilicher Beschränkung garantiert. In Übereinstim-
mung mit der schweizerischen Rechtslehre ? ist anzunehmen, daß die-
ser Vorbehalt gegenüber allen Freiheitsrechten gilt, obwohl nur die
Art.39 Abs. 2 S. 2 und Art. 40 explizite polizeiliche Schranken anführen.
Nur Werte — wie die Sittlichkeit und öffentliche Ordnung, die unter
den Begriff der Polizeigüter fallen 3 —, die dem Freiheitsrecht des
Bekenntnisses und des Kultes vorgehen, vermögen Einschränkungen
zu rechtfertigen.
Die «Sittlichkeit» und «öffentliche Ordnung» *, die der einzelne
oder eine religiöse Gemeinschaft bei Ausübung des Bekenntnisses
und des Kultus nicht stören und nicht gefährden dürfen, sind not-
mative, d. h. Wertbegriffe, deren Interpretierung an der Wertordnung
der Verfassung orientiert sein muß, So hat die «öffentliche Ordnung»
mit der «verfassungsmäßigen Ordnung» übereinzustimmen, die auf
der Idee der Freiheit und Gleichheit basiert 5.
ı Vgl. vorne $ 7/12.
? NeEr 196.
3 Als solche gelten nach Nef namentlich: Leib und Leben, Gesundheit, Sicher-
heit des Vermögens, Ruhe, Ordnung, Sittlichkeit, Treu und Glauben im Verkehr.
* Die Polizeigüter sind unter den Begriff «Öffentliche Ordnung» zu sub-
zumieren. Vgl. dazu NEr 196. Der Begriff der «öffentlichen Ordnung» ist ein
hinteichend bestimmbarer Begriff, der in der Rechts- und Verwaltungstradition
feste Gestalt angenommen hat. Diese Ansicht vertritt BETTERMANN 19,
5 Vgl. das vierte Hauptstück der geltenden Verfassung von 1921.
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