Volltext: Liechtenstein 1938-1978

1975 Verfassungs-Initiative für eine Mehrheitsklausel . . . Am 26. Juli 1975 wurde von mehreren Stimm- berechtigten ein formuliertes Initiativbegehren betreffend die Ergänzung von Artikel 46 der Verfassung, LGB1. 1921 Nr. 15, durch einen Absatz 4 angemeldet . . . Am 10. September 1975 wurden bei der Regierung insgesamt 139 Unterschriftenbögen mit total 1532 Unter- schriften eingereicht, in denen das angemeldete Initiativ- begehren betreffend Ergänzung von Artikel 46 der Verfassung gestellt wurde . . . Die Regierung hat in ihrer Sitzung vom 16. September 1975 festgestellt, dass das Initiativbegehren mit 1513 Unterschriften gültig zustandegekommen ist . . . Aus dem Bericht der fürstlichen Regierung an den Hohen Landtag zur Verfassungsinitiative betreffend die Ergänzung von Artikel 46 der Verfassung vom 16. September 1975 - Landtagsprotokolle 1975 Formulierte Verfassungsinitiative betreffend die Ergänzung von Art. 46 der Verfassung Abg. Dr. Ernst Büchel: . . . Die wesentliche Bestimmung der Initiative lautet: «Eine Wählergruppe, welche mehr als die Hälfte der für die Mandatszuteilung massgeblichen gültigen Stimmen im ganzen Land erreicht, hat jedenfalls Anspruch auf die Mehrheit der Abgeordneten im Landtag.» Warum ist es zu einer solchen Initiative gekommen? Nach dem gegenwärtigen Stand der Gesetzgebung ist es möglich, dass eine Partei im Landtag in die Minderheit versetzt wird, obwohl sie bei der Wahl des Landtages die Mehrheit der Bürger hinter sich zu sammeln vermocht hat. In der Wahlordnung fehlt ein bezügliches Korrektiv, d. h. eine Bestimmung, die ein solches Ergebnis im Geiste des Proporzes korrigiert. Die Ursache ist bekannt. Sie liegt in dem Umstand, dass Oberland und Unterland ihre Abgeordneten in je einem selbständigen Wahlbezirk wählen. Ohne Zweifel kann eine Wahl nicht befriedigen, die zur Folge hat, dass nicht die Mehrheitspartei, sondern die Minderheitspartei im Landtag die Mehrheit der Abge- ordneten stellt. Nicht nur das demokratische Prinzip, sondern auch der Proporz erfordert es, dass die Mehrheit der Wähler sich in der Mehrheit des Parlamentes wider- spiegelt. Bekanntlich wählen wir den Landtag nach dem Proporzsystem. Der Proporz will in erster Linie die Minder- heit schützen und garantieren, dass sie im Landtag eine ihrer Stärke entsprechende Vertretung erhält. Überdies will er allgemein die verhältnismässige Vertretung der politischen Parteien im Landtag sicherstellen. Daraus folgt logischerweise, dass der Proporz auch will, dass Mehrheit Mehrheit sei, d. h. dass eine Partei, die bei der Wahl des Landtages die Mehrheit der Bürger hinter sich vereinigt hat, im Landtag auch die Mehrheit der Abgeordneten stellt. Das Gegenteil ist eine Pervertierung des Proporzes. Das Gegenteil widerspricht dem Geist des Proporzes. Deshalb muss getrachtet werden, den aufgezeigten Mangel der Wahlordnung zu beheben. . . Abg. Dr. Karlheinz Ritter: ... Es wird von einer Lücke in der Verfassung und Mangel im Wahlrecht gesprochen. Von all diesen Dingen kann im Ernst doch wohl nicht die Rede sein. Es muss vielmehr darauf hingewiesen werden, dass unser Land von Verfassungswegen zwei mit den historisch gewachsenen Landschaften identische Wahlbezirke bildet, deren Bedeutung unter anderem daraus ersichtlich ist, dass jedem der beiden Wahlbezirke eine bestimmte Zahl von Abgeordneten zugeteilt wird. Den Sinn dieser Wahlkreiseinteilung sehe ich darin, dass gerade bei der Bestellung des Landtages als einem der wichtigsten Rechte des Volkes auf die Eigenart der beiden Land- schaften Rücksicht genommen werden soll, dass der Oberländer Abgeordnete als Vertreter des Oberlandes und der Unterländer Abgeordnete als Vertreter des Unter- landes angesehen werden soll. Das hindert den Abge- ordneten in keiner Weise daran, bei Ausübung seines Mandates die Interessen des ganzen Landes im Auge zu behalten. Wenn man nun, wie von der Verfassung vorgesehen, und vom Staatsgerichtshof in seinem Gutachten vom 28. Mai 1969 bekräftigt, der geschichtlichen Entwicklung und den damit einhergegangenen politischen Strukturen 
in den beiden Landschaften ebensoviel Bedeutung für die Beurteilung eines Wahlergebnisses zumessen will, wie dem rein rechnerischen Prinzip, so muss man zumindest die Frage stellen, ob es richtig ist. die bewusst nach Wahl- kreisen getrennte Zuteilung der Mandate am Schluss durch ein System zu ersetzen, das die Wahlkreiseinteilung missachtet und auf die Fiktion des einzigen Wahlkreises abstellt. Denn die Einflussnahme des einen Wahlkreises auf den anderen durch die Umrechnung ihrer Ergebnisse auf das ganze Land verletzt das Prinzip der Wahlkreis- einteilung und die Korrektur der Mandatszuteilung in jedem der beiden Wahlkreise durch die Ermittlung einer auf das ganze Land bezogenen Stimmenmehrheit verfälscht die Wahlkreisergebnisse. Wer also die Frage der Mehrheitsklausel bejahen will, muss sich darüber im klaren sein, dass er damit am Prinzip der Wahlkreiseinteilung rüttelt . .. Protokoll über die öffentliche Landtagssitzung vom 13. Oktober 1975 - Landtagsprotokolle 1975 Die Verfassungsinitiative betreffend die Ergänzung von Art. 46 der Verfassung wird behandelt. Die erforderliche Stimmeneinhelligkeit zum Initiativentwurf kommt nicht zustande (Zustimmung acht von fünfzehn Stimmen). Die Regierung wird einhellig mit der Anordnung einer Volksabstimmung beauftragt. Aus dem Beschlussprotokoll der öffentlichen Landtagssitzung vom 13. Oktober 1975 - Landtagsprotokolle 1975 «Mehrheitsklausel» verworfen Mit einem Mehr von 22 Nein-Stimmen hat sich das Volk gegen die Aufnahme der sogenannten «Mehrheitsklausel» in die Verfassung entschieden. Im Oberland überwiegen die Nein-Stimmen klar, mit 1384 gegen 1268 Ja. Genau umgekehrt ist das Ergebnis im Unterland: 697 Ja gegen 603~Nein. Erstaunlich, wie sich in den Unterländer Resultaten die parteipolitischen Positionen widerspiegeln. Erstaunlich deshalb, weil ein befürwortender Volksentscheid nach Meinung der VU in der politischen Konsequenz früher oder später doch unweigerlich zur Gefährdung des Wahlkreises Unterland geworden wäre. Eine Gefährdung freilich, die von der FBP-Werbung kategorisch verneint, ja als Unwahrheit hingestellt wurde . . . Liechtensteiner Vaterland, 2. Dezember 1975 . . . Die Tatsache, dass das Volksbegehren im Wahlkreis Unterland angenommen wurde, ist insofern interessant, als die Gegner der Initiative vor allem das Unterland verunsichern und den Unterländer Stimmbürgern klar machen wollten, dass ihre Einflussmöglichkeiten auf die Landespolitik bei der Verwirklichung der Mehrheitsklausel gefährdet und geschmälert würden . . . Liechtensteiner Volksblatt, 2. Dezember 1975 473
	        

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