Volltext: Liechtenstein 1938-1978

Liechtensteins politischer Dornröschenschlaf . . . Wirtschaftlich sind wir eine ausserordentlich rege Nation und wir werden wahrscheinlich nie mehr wieder auf das Vorkriegsniveau zurücksinken. Politisch dagegen sind wir noch nicht aus dem Dornröschenschlaf erwacht. Mit Politik meine ich nicht die Tagespolitik, welche sich in Diskussionen über Subventionen. Besetzungen von Stellen, Verwaltungsratsposten usw. erschöpft. Ich meine hier wirklich Politik und zwar die Politik, die über die Zukunft unseres Staatswesens entscheidet. Bei einem so kleinen Staat spielt dabei die Aussenpolitik eine eminente Rolle. Selbst Grossstaaten wie die USA und die Sowjetunion konnten sich nur für kurze Zeit Isolationismus leisten. Unsere Politik der letzten 70 Jahre kann man nicht einmal als Isolationspolitik bezeichnen, sondern vielmehr das Umsteigen von einem Rucksack in den andern. Die k. u. k. Monarchie hat uns viele Jahrzehnte auf ihrem breiten Rücken mitgeschleppt. Nach dem ersten Weltkrieg war dieser Rücken leider auf ein Restösterreich zusammen- geschmolzen und eine bedrohliche Talfahrt hatte einge- setzt. Mit sehr viel Glück und noch mehr Entgegenkommen sind wir — Gott sei Dank — in den bequemen Rucksack der Schweiz gefallen. Drohten doch manchmal Gefahren an unseren Grenzen — so wie die Weltwirtschaftskrise oder das Dritte Reich — so verschwanden sie alle über kurz oder lang. Die Schweiz hat sich als ein hervorragender Kletterer erwiesen, der immer höher auf der Lebensniveauleiter stieg. Wir haben dabei unglaublich profitiert, viele Lasten, wie diplomatische Vertretung, Post- und Zollwesen übernahm die Schweiz, und Liechtenstein behielt sich, was es selbst mit Profit betreiben konnte, z. B. die Briefmarken- ausgabe. Viele werden sich fragen: wenn dieses System bald 50 Jahre sich für uns so günstig ausgewirkt hat, weshalb soll es nicht weitere 50 Jahre halten? Warum sollen wir uns denn über unsere Zukunft Gedanken machen? Zwei Entwicklungen zwingen uns langsam, eine Aussen- politik zu konzipieren. Die erste Entwicklung kann man in der Schweiz beobachten. Dort gewinnt die Überzeugung an Boden, dass Liechtenstein nun stark genug sei, um zusätzliche Rechte und Pflichten zu übernehmen. Weder von Schweizer noch von Liechtensteiner Seite wird mehr bestritten, dass unsere Verträge aus den 20er-Jahren in vielen Punkten revisionsbedürftig sind. Beim Postvertrag wurde mit der Revision begonnen, früher oder später 
werden auch die anderen Verträge neu bearbeitet. Sicher ist es eine Entwicklung, die sich noch über Jahre dahin- ziehen wird. Wir müssen aber für die Verhandlungen mit der Schweiz eine Politik haben, in der unsere Zukunfts- vorstellung von Liechtenstein enthalten ist. Wenn wir als einzige Möglichkeit wieder den Rucksack der Schweiz für Liechtenstein ins Auge fassen, wird es wahrscheinlich einmal ein unangenehmes Erwachen geben. Die Schweiz wird früher oder später mit Recht von uns verlangen, dass wir entweder selbst laufen lernen oder unsere Selbständigkeit weitgehend aufgeben. Die zweite politische Entwicklung, welche unseren Staat vor grosse Probleme stellen wird, ist die Integration Europas . . . Ist die Stellung Liechtensteins in einem engeren Verhältnis Schweiz-EWG die gleiche wie im Verhältnis Schweiz- EFTA, so ist es mit unserer Selbständigkeit ziemlich sicher endgültig vorbei. Wenn wir in einem Vereinten Europa nur den Status eines Beobachters haben, ist es besser, wir bitten die Schweiz, Liechtenstein als 23. Kanton aufzunehmen. Unsere Bevölkerung ist dann in Bern im Parlament direkt vertreten und die Schweiz könnte sich für unsere Interessen mit sehr viel mehr Recht und Gewicht in Brüssel einsetzen. Vielleicht können wir sogar unsere Briefmarkenausgabe zur Finanzierung unseres Budgets behalten, ebenso wie einen Fürsten im Schloss als Touristenattraktion. Wenn wir diese Lösung in Liechtenstein nicht wollen, und ich bin überzeugt, die überwältigende Mehrheit würde sie heute ablehnen, muss die Aussenpolitk bei uns Liechtensteinern mehr Beachtung finden . . . Unsere Stellung in der Welt hängt in erster Linie von der Achtung ab, die uns entgegengebracht wird. Wir sind weder reich noch mächtig genug, um Freundschaften erzwingen oder kaufen zu können. Wollen wir von anderen Staaten respektiert und anerkannt werden, bleibt uns nichts anderes übrig, als noch andere heilige Kühe zu schlachten. Ich denke unter anderem an das Frauenstimmrecht und die Einbürgerung der alteingesessenen Ausländer. Während unsere Weigerung, die Frauen wählen zu lassen, in der Welt wahrscheinlich mehr Heiterkeit als Entrüstung hervorruft, ist die Nichteinbürgerung der alteingesessenen Ausländer ein moralisches Problem. Wir bezeichnen uns als christlichen Rechtsstaat, in dem der katholische Glaube noch dazu Staatsreligion ist. und halten uns gleichzeitig Bürger II. Klasse, die zwar Steuern zahlen und zum allgemeinen Wohlstand beitragen dürfen, denen wir aber teilweise seit Jahrzehnten und Generationen jedes Mit- spracherecht verweigern. Noch ist der Zug nicht abgefahren, den wir besteigen müssen, und wir haben Zeit, unser Problem mit Vernunft zu lösen .. . Wenn wir die 250 Jahre unserer Geschichte betrachten, haben wir einen Grund, optimistisch zu sein. In diesen 250 Jahren hat sich die Landkarte in Europa immer wieder gewandelt. Staaten sind entstanden und wieder verschwunden, aber das kleine Liechtenstein hat überlebt. Aus einer Ansprache S. D. des Erbprinzen Hans Adam anlässlich eines Informationsabends im Rahmen der berufskundlichen Ausstellung in Triesen am 12. September 1970 - Liechtensteiner Vaterland, 15. September 1970 394
	        

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.