Volltext: Liechtensteiner Volksblatt (2019)

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SAMSTAG 
7. DEZEMBER 2019 
Schicksalswahl in Grossbritannien: 
Johnsons Brexit oder zweites Referendum? 
Hintergrund Das britische 
Parlament gilt vielen seit dem 
Gezerre um den EU-Austritt 
als Ort heillosen Zanks. Am 
kommenden Donnerstag 
wählen die Briten nun neue 
Abgeordnete. Es gibt dabei 
einen klaren Favoriten: Pre- 
mierminister Boris Johnson. 
VON SILVIA KUSIDLO 
UND CHRISTOPH MEYER, DPA 
Er 
liegt in den Umfragen mit 
seinen Konservativen deut- 
lich vorne. Mit einer Mehr- 
heit will er seinen Brexit-De- 
al durchpeitschen und das Land zum 
31. Januar aus der Europäischen Uni- 
on führen. Labour-Chef Jeremy Cor- 
byn dagegen verspricht ein zweites 
Brexit-Referendum. Doch Vorsicht 
ist angebracht. Wer meint, das Ren- 
nen sei bereits gelaufen, könnte sich 
täuschen. «Falls irgendjemand zu 
Ihnen kommen sollte und sagen, er 
wisse, was passieren wird, ziehen 
Sie eine Augenbraue hoch, lächeln 
Sie freundlich und wenden Sie sich 
ab», sagte BBC-Moderator Andrew 
Marr dazu kürzlich. 
Prognosen offensichtlich schwierig 
Die beiden Spitzenkandidaten sind 
nämlich denkbar unpopulär. Weni- 
ger als die Hälfte der Briten hält 
Johnson für einen guten Premiermi- 
nister, Corbyn wird der Job von gera- 
de mal einem Viertel zugetraut. Auf 
den Punkt brachte diese Stimmung 
kürzlich die 86 Jahre alte Molly Ben- 
net aus der Nähe von Southampton. 
«Ich weiss, für wen ich nicht stim- 
men werde», sagte die alte Dame 
dem Sender Sky News. «Den roten 
Mann.» Gemeint war der Chef der 
Sozialdemokraten. Doch auch für 
Johnson hatte sie kein Lob übrig. 
«Ich wähle normalerweise konserva- 
tiv, aber ich kann den Kasper nicht 
ertragen», klagte sie. 
Das britische Wahlrecht selbst macht 
Voraussagen sehr unzuverlässig. 
Selbst ein deutlicher Vorsprung in 
den Umfragen bedeute nicht unbe- 
dingt eine grosse Mehrheit im Unter- 
haus, warnte der renommierte Wahl- 
forscher John Curtice von der Uni- 
versität Strathclyde in Glasgow. 
Bevölkerung ist gespalten 
Die Frage ist, ob es zu einem John- 
son-Sieg kommt oder wieder zum 
«hung parliament» – einer Sitzvertei- 
lung, in der es keine klare Mehrheit 
für eine der beiden grossen Parteien 
gibt. Das war bereits nach der Wahl 
2017 der Fall – und führte zu einer 
Hängepartie um den Brexit. John- 
sons Vorgängerin Theresa May konn- 
te nur mithilfe der nordirischen DUP 
weiterregieren. 
Manch einer hielt das für eine realis- 
tische Abbildung der Stimmung im 
Land, denn der Zank um den EU- 
Austritt beschränkt sich nicht auf 
das Parlament. Umfragen zeigen, 
dass die Briten auch dreieinhalb Jah- 
re nach dem Brexit-Referendum zu 
ungefähr gleichen Teilen in Aus- 
trittsbefürworter und -gegner ge- 
spalten sind. Könnte es sein, dass es 
wieder ein Patt gibt im Unterhaus? 
Johnsons Tories verdanken ihr Um- 
fragehoch vor allem der Tatsache, 
dass sie die Brexit-Partei von Nigel 
Farage erfolgreich an die Wand ge- 
spielt haben. Die überwiegende 
Mehrheit der Austrittsbefürworter 
will den Umfragen zufolge die Kon- 
servativen wählen. Das bedeutet 
auch, es gibt für sie kaum mehr et- 
was hinzuzugewinnen. Die «Brexit- 
Orange» sei ausgequetscht, befindet 
Wahlforscher Curtice. 
Labour dagegen konkurriert mit den 
Liberaldemokraten um die Stimmen 
der Brexit-Gegner und hier gibt es 
noch Spielraum: In den vergangenen 
Wochen war in den Umfragen eine 
Wählerwanderung von den Libera- 
len zu Labour zu beobachten. 
Es zeichnet sich immer mehr ab, 
dass sich die junge Liberalen-Chefin 
Jo Swinson mit ihrer Ankündigung, 
den Brexit einfach abzusagen, ver- 
zockt hat. Sollte sich dieser Trend 
fortsetzen, wäre die Johnson-Mehr- 
heit Beobachtern zufolge in Gefahr. 
«The winner takes it all» 
Doch ein landesweiter Trend spiegelt 
nicht unbedingt wider, was am Ende 
des Wahltags als Ergebnis zu erwar- 
ten ist. Grossbritannien hat ein rei- 
nes Mehrheitswahlrecht. Nur der 
Kandidat, der in einem der 650 
Wahlkreise die meisten Stimmen auf 
sich vereint, erhält einen Sitz im Par- 
lament.  Der Gewinner räumt also al- 
les ab, egal wie knapp sein Sieg war. 
Entscheidend sind die Sitze in einer 
Reihe umkämpfter Wahlkreise, die 
sogenannten «marginal Seats». 
So wie er Wahlkreis Ashfield in Mit- 
telengland nahe Nottingham. Ei- 
gentlich war der Bezirk fest in La- 
bour-Hand. Doch bei der Parla- 
mentswahl 2017 hatten sich die Sozi- 
aldemokraten hier nur mit einer 
hauchdünnen Mehrheit von 411 Stim- 
men gegen die Konservativen be- 
hauptet. Wer wird dieses Mal in Ash- 
field gewinnen, wo rund 70 Prozent 
für den Austritt aus der Europäi- 
schen Union gestimmt haben? 
Misstrauen allenthalben 
Hört man sich dort um, fällt vor al- 
lem auf, wie viele sich noch nicht 
entschieden haben. Die Menschen 
sind misstrauisch, nur wenige wol- 
len mit Journalisten sprechen, ge- 
schweige denn namentlich zitiert 
oder fotografiert werden. «Ich werde 
wählen gehen, aber ich weiss nicht 
wen», sagte eine Verkäuferin in ei- 
nem Blumengeschäft im Städtchen 
Hucknall. Das Drama habe schon 
beim Brexit-Referendum 2016 ange- 
fangen – man sei nicht über die Fol- 
gen des EU-Austritts aufgeklärt wor- 
den. Gleichwohl: «Wahrscheinlich 
würde ich wieder für den Brexit 
stimmen.» «Die Parteien hier lügen 
doch alle», schimpfte ein Händler 
auf dem Markt der Stadt. Es sage ei- 
nem doch der «gesunde Menschen- 
verstand», dass die Wahlverspre- 
chen nicht finanzierbar seien. So 
kündigte etwa Corbyn den Neubau 
von 150 000 Wohnungen und kos- 
tenloses Internet für alle an, John- 
son will mit grossen Investitionen in 
den maroden staatlichen Gesund- 
heitsdienst NHS und in die Polizei 
Wähler ködern. Früher war Huck- 
nall ein prosperierendes Zentrum 
der Textilverarbeitung und des Koh- 
le-Bergbaus. Doch die goldenen Zei- 
ten sind längst vorbei. Der Ort mit et- 
wa 30 000 Einwohnern hat sich zur 
schmucklosen Pendlerstadt entwi- 
ckelt. Wohlstand sieht anders aus. 
Die grosse Zustimmung zum EU-Aus- 
tritt wurde vor allem als Protest ge- 
gen das Establishment verstanden. 
Sollten die Menschen wieder vor al- 
lem ihrem Ärger Luft machen wollen 
an den Wahlurnen, wird das Ergeb- 
nis noch schwerer vorauszusagen: 
Johnson inszeniert sich zwar als 
Vollstrecker des Volkswillens, doch 
Corbyn gilt mit seinen Plänen zur 
Verstaatlichung von Post, Eisen- 
bahn- und Energienetzen als der ei- 
gentliche Revoluzzer. 
Protest gegen herrschende Klasse 
In einem «hung parliament» könnte 
Corbyn theoretisch eine Minderheits- 
regierung formen und sein Verspre- 
chen eines zweiten Brexit-Referen- 
dums einlösen. Die Schottische Nati- 
onalpartei SNP wäre bereit, ihn zu 
unterstützen, wie SNP-Chefin Nicola 
Sturgeon bereits deutlich machte. 
Der Preis, daran liess sie keinen Zwei- 
fel, wäre eine baldige Volksabstim- 
mung über die Unabhängigkeit des 
mehrheitlich EU-freundlichen Schott- 
lands vom Vereinigten Königreich. 
«Ibiza-Video» Ermittlungen eingestellt 
MÜNCHEN/WIEN Die Münchner Staatsanwaltschaft hat nach der Veröff entli- 
chung des aufsehenerregenden «Ibiza-Videos» mit dem damaligen österreichi- 
schen Vizekanzler Heinz-Christian Strache die Ermittlungen gegen Journalisten 
der «Süddeutschen Zeitung» eingestellt. Der frühere FPÖ-Chef Strache, den das 
Video zum Rücktritt zwang, hatte drei Journalisten und zwei Chefredaktoren 
der «SZ» unter anderem wegen «Zugänglichmachen von höchstpersönlichen 
Bildaufnahmen» angezeigt. Die Staatsanwaltschaft teilte nun am Freitag mit, 
dass «das überragende Interesse an der Berichterstattung über die thematisier- 
ten Missstände von erheblichem Gewicht» sei und dieses Interesse die Nachteile 
für Strache überwiege. Strache ist auf dem heimlich gefi lmten Video im Ge- 
spräch über mögliche Formen politischer Einfl ussnahme mit einer vermeintli- 
chen russischen Investorin zu sehen. Das Video wurde im Sommer 2017 auf der 
Mittelmeerinsel Ibiza aufgenommen. Strache musste nach der Veröff entlichung 
durch «Spiegel» und «Süddeutsche Zeitung» von seinen politischen Ämtern zu- 
rücktreten; ausserdem zerbrach die rechtskonservative Regierung in Österreich.     
(Text: sda/dpa; Screenshots: APA/ZVG) 
Neue SPD-Chefs wollen klaren 
Linkskurs und zweifeln an GroKo 
Forsch Die beiden am Freitag neu gewählten SPD-Vorsitzenden, Saskia Esken und Norbert 
Walter-Borjans, wollen die deutschen Sozialdemokraten wieder auf einen klaren Linkskurs 
führen. Notfalls wollen sie dafür die Regierungskoalition mittelfristig verlassen. 
Die linke Bundestagsabgeordnete 
und der frühere nordrhein-westfäli- 
sche Finanzminister stellten in ih- 
ren Bewerbungsreden beim Partei- 
tag vor rund 600 Delegierten klar, 
dass sie die wach- 
sende Kluft zwi- 
schen Arm und 
Reich schliessen 
und mehr Klima- 
schutz durchset- 
zen wollen. Beide 
zweifelten daran, 
ob das mit den 
Christdemokraten 
in der Grossen Ko- 
alition (GroKo) möglich ist. Es gebe 
mit ihnen als standhafte SPD-Chefs 
einen Aufbruch in eine «neue Zeit», 
sagten Esken und Walter-Borjans 
unisono. Die grosse Mehrheit der 
Delegierten erhob sich jeweils zum 
Ende der Reden von den Plätzen und 
applaudierte. 
Scholz und Geywitz bezwungen 
«Ich war und ich bin skeptisch, was 
die Zukunft dieser Grossen Koalition 
angeht», sagte Esken, die im Duo mit 
Walter-Borjans den SPD-Mitglieder- 
entscheid für sich entschieden hat- 
te. «Viel zu lange war die SPD in den 
letzten Jahren in ihrer eigenen Den- 
ke mehr Grosse Koalition als eigen- 
ständige Kraft.» Die SPD gebe der 
Grossen Koalition eine «realistische 
Chance auf eine Fortsetzung» – 
«nicht mehr, aber auch nicht weni- 
ger». Wie ihr Partner Walter-Borjans 
kritisierte die 58 
Jahre alte SPD-Frau 
die CDU-Chefin An- 
negret Kramp-Kar- 
renbauer. Dass diese 
die Umsetzung der 
mühsam ausgehan- 
delten Grundrente 
an den Fortbestand 
der Koalition knüp- 
fe, sei respektlos. 
Die CDU/CSU hatte klargestellt, dass 
sie den Koalitionsvertrag nicht auf- 
schnüren möchte. 
Walter-Borjans verschärfte den Ton 
gegenüber den Christdemokraten 
und pochte auf ein stärkeres Profil 
der in Umfragen gebeutelten SPD. 
Esken und er hatten sich im Mitglie- 
derentscheid überraschend gegen 
Vizekanzler Olaf Scholz und Klara 
Geywitz durchgesetzt. 
In einer Demokratie müsse man 
Kompromisse machen, aber sie dürf- 
ten nicht «verwischen, wo wir ste- 
hen», sagte Walter-Borjans. Das 
machte er am Thema Klimaschutz 
fest. Da habe die SPD in der GroKo 
mit dem Klimapaket einen Einstieg 
erreicht, dürfe sich darauf 
aber nicht ausruhen. Für 
eine Koalition, von der al- 
le sagten, sie nach der 
nächsten Wahl nicht fort- 
führen zu wollen, «werde 
ich nicht eine ganze 
Generation von Men- 
schen von der SPD 
entfremden», so 
Walter-Borjans. 
Esken forderte in 
ihrer Rede zu- 
dem eine Umkehr ihrer Partei in der 
Arbeitsmarktpolitik. Deutschland 
leiste sich einen der grössten Nied- 
riglohnsektoren in Europa. Die SPD 
habe dazu beigetragen, dass dieser 
Niedriglohnsektor entstehen konnte. 
In der Finanz- und Sicherheitspolitik 
deutet sich eine Konfrontation mit 
der CDU/CSU an. Walter-Borjans will 
zugunsten von nötigen Investitionen 
notfalls auch auf die Schuldenbremse 
im Grundgesetz verzichten. Zudem 
bemängelte er, es habe in den ver- 
gangenen Jahren eine schleichende 
Entlastung der oberen Einkommen 
gegeben. Wer hohe Einkommen und 
Vermögen habe, müsse einen ange- 
messenen Beitrag zur Finanzierung 
des Gemeinwesens zahlen. Er be- 
klagte im Weiteren, dass Verteidi- 
gungsministerin Kramp-Karrenbauer 
Deutschland immer weiter aufrüsten 
und die Bundeswehr auf der ganzen 
Welt einsetzen wolle. Das sei «grund- 
falsch», sagte Walter-Borjans. «Dazu 
dürfen Sozialdemokraten nicht die 
Hand reichen.» Es gelte «Ausrüstung 
ja, aber Aufrüstung nein.» 
Ungeliebte «GroKo» 
Zum Auftakt des Parteitags hatte die 
scheidende Vorsitzende Malu Dreyer 
zur Geschlossenheit aufgerufen und 
die Erfolge der SPD in der Koalition 
herausgestrichen. Die SPD will auf 
dem dreitägigen Parteitag ihre neue 
Spitze wählen und ihren Kurs in der 
Koalition bestimmen. Gegner der 
GroKo wollen eine Abstimmung über 
einen Ausstieg erzwingen. Der Par- 
teitag entschied sich am Mittag mit 
grosser Mehrheit, die Satzung zu än- 
dern, um eine Doppelspitze mit einer 
Frau und einem Mann zu ermögli- 
chen. Danach wurde Esken mit 75,9 
Prozent der Stimmen und Walter- 
Borjans 89,2 Prozent gewählt.   (dpa) 
«Viel zu lange war die 
SPD (...) in ihrer eigenen 
Denke mehr Grosse 
Koalition als eigen- 
ständige Kraft.» 
SASKIA ESKEN 
NEUE CO-VORSITZENDE DER SPD 
Prägen derzeit die deutschen Sozialdemokraten: Norbert Wal- 
ter-Borjans, Kevin Kühne und Saskia Esken. (Foto: Keystone/DPA)
	        

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