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8. NOVEMBER 2019
VON ZORIGT DASHDORJ
So
hatte die Einführung des
Buchdrucks im 15. Jahrhun-
dert tiefgreifende Konse-
quenzen für das Schicksal
der Welt. Die revolutionären Ideen
von Johannes Calvin und Martin Lu-
ther wurden in gedruckter Form für
unzufriedene Katholiken in vielen
europäischen Sprachen verfügbar
gemacht. Die protestantische Ar-
beitsmoral nährte das kapitalistische
Ethos, und die vom Kapitalismus
befeuerte Innovation hat die Welt
verändert. Als gedruckte Bücher in
vielen europäischen Sprachen er-
hältlich wurden, fi el der Nationalis-
mus auf fruchtbaren Boden und in
den internationalen Beziehungen
tauchten die Nationalstaaten – als
Gegenentwurf zu den Imperien – als
dominierende Akteure auf. Niko-
laus Koperniku’ «De revolutionibus
orbium coelestium» («Über die Um-
schwünge der himmlischen Kreise»)
leitete den Massendruck wissen-
schaftlicher Werke ein. Es folgte ein
Zeitalter der Vernunft, das zu der
Welt führte, die wir heute kennen.
In autoritären Staaten
waren die Beschränkungen
tiefgreifend. Die Machtha-
ber entschieden, was die
Leute sahen und lasen.
Durch das Drucken konnten Ideen
schnell, kostengünstig und weit ver-
breitet werden. Doch noch bis vor
Kurzem hatten einige Quellen die
Verbreitungsinstrumente im We-
sentlichen monopolisiert: Fernseh-
sender, Zeitungen und Druckereien.
Unabhängig davon, wie demokra-
tisch oder aufgeschlossen diese
Quellen waren, war ihre Zahl den-
noch begrenzt – und sie könnten be-
stimmen, auf welche Ideen die Öf-
fentlichkeit zugreifen konnte.
In autoritären Staaten waren diese
Beschränkungen tiefgreifend. Die
Machthaber entschieden, was die
Leute sahen und lasen. Doch selbst
unterdrückerische Ein-Parteien-Re-
gime können ihre Macht verlieren,
wenn sich die Massen gegen sie mo-
bilisieren, wie die Ereignisse der
späten 1980er-Jahre in Osteuropa ge-
zeigt hatten.
Das Aufkommen der sozialen Medi-
en zerstörte das Monopol auf Ideen.
Einzelpersonen können ihren eige-
nen Diskurs erstellen und von einem
grösseren Publikum gehört werden
als etablierte Fernsehsender oder
Zeitungen. Die Printmedien-Bran-
che schrumpft bereits. Altherge-
brachte Fernsehsender folgen die-
sem Beispiel und werden durch You-
Tube-Kanäle, Facebook-Live-Videos
und dergleichen ersetzt. In der Uk-
raine begannen die Euromaidan-
Proteste Ende 2013 mit einem einzi-
gen Facebook-Posting.
Für Demokratien bedeutete das Zeit-
alter der sozialen Medien den Nie-
dergang der alten Parteiensysteme,
die darauf beruhten, dass aktive Mit-
glieder von Tür zu Tür gingen, um
Kandidaten und Agenden zu för-
dern. Mit der Ablösung der Partei-
Institutionen durch internetbasierte
soziale Netzwerke werden die ein-
zelnen Politiker, die über diese Netz-
werke verfügen, selbst zu politi-
schen Parteien.
US-Präsident Donald Trump und
sein französischer Amtskollege Em-
manuel Macron vertreten zwar un-
terschiedliche politische Ansichten,
sie sind jedoch beide ein Symbol für
diesen neuen Trend. Einzelne Politi-
ker ersetzen alte politische Maschi-
nerien. Diejenigen, die solch ein
Kunststück zustande bringen, haben
nicht immer vernünftige, angemes-
sene oder sogar umsetzbare Vor-
schläge, aber sie finden leicht Unter-
stützung bei den Wählern. Diejeni-
gen, deren Ideen bei vielen Men-
schen Anklang finden, erhalten Le-
gitimation.
Dieser Trend wird sich wahrschein-
lich fortsetzen, was bedeutet, dass
moderne Demokratien kurz vor ei-
ner drastischen Reform stehen.
Wähler, denen es nicht wichtig war,
ihre Meinung zu äussern, weil ihnen
die Politik unzugänglich erschien,
finden jetzt Themen und Menschen,
die sie begeistern. Leidenschaftliche
Minderheiten, die sich für verschie-
dene Themen starkmachen, von Ein-
wanderung über die Ethnie, Um-
welt, Kultur, Gesundheitswesen bis
Bildung – ja sogar für Sport, Kunst
oder esoterischere Themen –, teilen
sich immer mehr in Einzelgruppie-
rungen auf und agieren selbstge-
recht. Sie leben in ihren eigenen
Welten.
Für Demokratien bedeutete
das Zeitalter der sozialen
Medien den Niedergang
der alten Parteiensysteme.
Das Zeitalter der Vernunft und Rati-
onalität weicht einem Zeitalter der
vielen Wahrheiten und der selbstbe-
wussten Vermutungen, die keine
Vernunft mehr erfordern.
Nationalstaaten weichen Identitäts-
staaten oder identitätsbasierten Ge-
meinschaften. Diese Gemeinschaf-
ten sind nicht an nationale Grenzen
gebunden. Ein in Asien lebendes
Kind aus der Mittelklasse hat mögli-
cherweise mehr mit einem Mittel-
schicht-Kind in den USA oder Afrika
gemeinsam als mit dem Kind einer
Arbeiterfamilie in seinem eigenen
Land. Die Kinder der Mittelklasse es-
sen das gleiche Essen, schauen die
gleichen Filme, tragen die gleichen
Klamotten und lesen die gleichen
Bücher. Höchstwahrscheinlich spre-
chen sie sogar eine gemeinsame
Sprache: Englisch. Social-Media-
Plattformen zementieren diese Ähn-
lichkeiten innerhalb der Identitäts-
gemeinschaften.
Immer mehr Probleme können nur
noch auf weltweiter Ebene gelöst
werden und treiben damit die Glo-
balisierung der Politik voran. Um-
weltfragen sind nur ein Beispiel,
aber auch sehr technische Fragen
wie die Besteuerung können jetzt
auf supranationaler Ebene angegan-
gen werden.
Das könnte bedeuten, dass die Poli-
tik auf eine ähnliche Weise globali-
siert wird, wie das Europäische Par-
lament schon heute arbeitet. Die
Mitte-links-Fraktionen, Mitte-rechts-
Gruppen, die Grünen oder die äu-
sserste Rechte kommen aus jedem
Land der EU zusammen, um eine
einheitliche Fraktion zu bilden. Auf
globaler Ebene sind die politischen
Gemeinschaften noch stärker frag-
mentiert.
Solche Entwicklungen erfordern
Vereinte Nationen, die sich nicht nur
auf die nationale Identität, sondern
auch auf die Ideengemeinschaft
stützt. Umweltschützer, Gender-Ak-
tivisten, Tierschützer, Kulturaktivis-
ten, Finanzkonservative und andere
werden ihre eigenen unabhängigen
Sitze an den Tischen globaler Ent-
scheidungsgremien benötigen. Die-
se Organisationen werden immer
mächtiger.
Die Legitimität unter solchen Um-
ständen beruht auf kontinuierlichem
Wirtschaftswachstum und sozialer
Entwicklung. Je besser der Lebens-
standard der Menschen ist, desto
grösser ist die Legitimität des Regi-
mes. In Singapur etwa sind die Men-
schen zufrieden mit der erstklassi-
gen Wirtschaftsleistung und den So-
zialdienstleistungen des Landes,
auch wenn die Demokratie an sich
nicht perfekt ist. Das widerspricht
der weit verbreiteten Annahme, dass
die Mittelschicht mehr Freiheiten
fordert, wenn sie reicher wird.
Die Politik verändert sich im Zeital-
ter der sozialen Medien sowohl für
demokratische als auch für autoritä-
re Regime. Für demokratische Län-
der wird die Fähigkeit der Regierun-
gen, durch kollektives Handeln zu
regieren, zu einer noch grösseren
Herausforderung. Wenn die Politik
durch kleine Gruppen vereinnahmt
wird, die ihre Positionen konse-
quent vertreten und es unmöglich
machen, eine gemeinsame Grundla-
ge zu finden, werden die heutigen
demokratischen Mechanismen irre-
levant. Für weniger demokratische
Staaten ist die Legitimität auf der
Grundlage wirtschaftlicher Leistung
und leistungsbasierter sozialer Mo-
bilität überlebenswichtig, da Unzu-
friedenheit schnell erdrückend wer-
den kann.
Das historische Erschütterungs-
Potenzial der sozialen Medien
Da die Auswirkungen der sozialen Medien auf die Politik immer deutlicher werden, ist nun klar, dass sie in eine
Reihe mit einigen der epochalsten Technologien in der Geschichte der Menschheit gestellt werden können.
(Symbolfoto: Shutterstock)
Über den GIS-Experten
Risikomanager
und ehemaliger
Politiker
GIS-Experte Zorigt Dashdorj sitzt im
Verwaltungsrat des «Mongolia Deve-
lopment Strategy Institute» und führt
seine eigene Risikomanagement-Firma.
Zudem ist er Verwaltungsratsmitglied
mehrerer Unternehmen in der Mongo-
lei. Er arbeitet derzeit an seinem
Doktortitel in Rechtswissenschaften an
der Kyushu Universität. Als ehemaliger
mongolischer Minister für Energie und
Bodenschätze (2008–2012) und Parla-
mentsabgeordneter (2009–2012) gilt er
als einer der anerkanntesten Experten
für die Energie und den Bergbau der
Mongolei. Während seiner Amtszeit ini-
tiierte er mehrere gross angelegte
Bergbau- und Energieprojekte, darun-
ter auch den ersten kommerziellen
Windpark der Mongolei. Vor seiner Zeit
als Minister war er Geschäftsführer der
staatlichen Bergbaufirma Erdenes MGL
und dort für strategische Projekte
zuständig.
Das «Volksblatt» gibt Gastautoren Raum,
ihre Meinung zu äussern. Diese muss nicht
mit jener der Redaktion übereinstimmen.
Copyright: Geopolitical Intelligence
Services AG, GIS, Vaduz. 2019.
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