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22. AUGUST 2019
Exodus aus Südosteuropa –
Länder verlieren Kampf um kluge Köpfe
Hintergrund «Wir sind eine
im Verschwinden begriffene
Nation.» So beklagt Marian
Hanganu, früherer Verkaufs-
direktor der rumänischen
Headhunting-Firma Colorful,
auf der Homepage der Firma
die Massenauswanderung
aus einem der ärmsten EU-
Länder.
«Das Resultat ist, dass viele multina-
tionale Unternehmen entschieden
haben, nicht mehr in Rumänien zu
investieren, weil es einfach kein Per-
sonal gibt.» Ähnlich sieht es im
Nachbarland Bulgarien aus: «Die
Wirtschaft beginnt, Verträge und
neue Aufträge abzusagen, da es an
Arbeitskräften fehlt», so Wirt-
schaftsminister Emil Karanikolow in
einem bulgarischen TV-Sender.
Vor allem Junge zieht es weg
Viele Menschen aus Südosteuropa
zieht es in Länder wie Deutschland,
Italien und Spanien. Die Löhne in ih-
rer Heimat steigen, aber nur gering.
Ganz Südosteuropa ist betroffen.
Unternehmer, Experten und Politi-
ker von Budapest bis Athen sorgen
sich. Gerade die für den Arbeits-
markt attraktiven jungen, gut ausge-
bildeten Menschen wandern ab.
Fachkräfte fehlen an allen Ecken
und Enden. Mancherorts führt der
Exodus zu verzweifelten Versuchen
der Behörden, den Bürgern Normali-
tät vorzugaukeln, wie etwa im ost-
kroatischen Dorf Rusevo: Dort wur-
de jüngst das Schulgebäude neu ge-
strichen, obwohl es in dem Ort nur
vier Schüler gibt. Was aber nicht
wegzutünchen ist: In dem auf 310
Einwohner geschrumpften Ort in
der Nähe von Slavonski Brod steht
die Hälfte der Häuser an der Haupt-
strasse leer, viele davon verfallen.
Mehr als zwei Millionen Rumänen
leben nach Schätzung der Regierung
in Bukarest im Ausland, die meisten
in Spanien und Italien. Der Exodus
in der Nachbarschaft war ähnlich:
Mehr als 700 000 Bulgaren haben
nach offiziellen Angaben im EU-Aus-
land ein neues Zuhause. Aus Kroati-
en wanderten laut einer Studie der
Nationalbank (NHB) in Zagreb allein
von 2013 bis 2016 insgesamt 230 000
Bürger ins EU-Ausland aus. Es ent-
spricht einer Auswanderungsrate
von 2 Prozent der Bevölkerung pro
Jahr. Serbien haben seit dem Jahr
2000 nach Regierungsangaben
654 000 Menschen verlassen. Sie ge-
sellen sich zu der halben Million Ser-
ben, die bereits vorher wegen der
von Slobodan Milosevic angezettel-
ten Kriege emigriert sind.
400 000 Griechen sind weg
Griechenland kehrten seit Ausbruch
der schweren Finanzkrise 2010 nach
Schätzungen der Gewerkschaften
mindestens 400 000 überwiegend
junge Menschen den Rücken. Der
neue konservative griechische Re-
gierungschef Kyriakos Mitsotakis
hat wiederholt erklärt, sein Ziel sei
es, das Leben aller Griechen zu ver-
bessern und auch den Auswande-
rern wieder «Perspektiven zu bie-
ten, damit sie zurückkehren». Sogar
in Ungarn, das bislang als eines der
am besten entwickelten Länder der
Region galt, setzte nach der globalen
Krise 2008 eine Emigrationswelle
ein, die sich nach 2010 sprunghaft
verstärkte, wie die Budapester So-
ziologin Agnes Hars in einer Studie
feststellte. Allein von 2010 bis 2017
hätten mehr als 200 000 Ungarn
zwischen 20 und 65 Jahren das Land
verlassen – die Dynamik sei die
höchste in allen neuen EU-Beitritts-
ländern gewesen. Seit 2010 ist der
nationalistische Politiker Victor Or-
bán Ministerpräsident von Ungarn.
Für Cristina Mihu war die Entschei-
dung, nach Deutschland zu gehen,
leicht. Sie hatte in der Schule in De-
va in der rumänischen Provinz
Transsylvanien Deutsch als zweite
Fremdsprache gelernt. Während des
anschliessenden Medizin-Studiums
in Temeswar finanzierten ihre El-
tern drei Praktika in Kliniken in Ita-
lien, Spanien und in Heidelberg.
«Ich wollte international Erfahrun-
gen sammeln», sagt die 32-jährige
Fachärztin für Innere Medizin am
Klinikum Nürnberg. Seit sechs Jah-
ren ist sie in Franken. Die in Rumä-
nien auch im Gesundheitswesen ver-
breitete Korruption war neben dem
besseren Verdienst ein Grund für ih-
re Auswanderung. «Das hat mich
schon gestört, auch wenn es früher
schlimmer war», sagt sie. Im Ver-
gleich zu Rumänien habe Deutsch-
land nicht nur die besser ausgestat-
teten Kliniken, sondern auch einen
anderen ihr sympathischen Zug. «In
Deutschland spricht man deutlich
mehr mit den Patienten», sagt Mihu.
Eine Stichprobe unter 217 deutschen
Krankenhäusern ergab die klare
Tendenz, dass unter den nicht deut-
schen Pflegekräften die meisten aus
Bosnien-Herzegowina stammten.
Nach Angaben der Deutschen Kran-
kenhausgesellschaft werden die
meisten ausländischen Arbeitskräfte
über eigene Akquise oder private
Vermittler gewonnen. Allgegenwär-
tig ist in Südosteuropa der Mangel
an Ärzten und Pflegepersonal: In
der ungarischen Kleinstadt Szolnok
musste die Station für Infektions-
krankheiten deswegen vorüberge-
hend geschlossen werden. Das Kreis-
krankenhaus der rumänischen Do-
naudelta-Stadt Tulcea hat seit neues-
tem keine Anästhesisten mehr, weil
von den drei ursprünglich vorhan-
denen zwei gekündigt haben und ei-
ner selbst krank geworden ist. Ru-
mänische Unternehmer versuchen
wegen des Engpasses sogar, Perso-
nal aus dem Fernen Osten anzulo-
cken. Die Regierung hat für dieses
Jahr ein Kontingent von 20 000 Ar-
beitskräften aus Nicht-EU-Ländern
festgelegt. Jüngst war dies auch The-
ma bilateraler Verhandlungen mit
Pakistan. Das Kontingent ist aber
aus Sicht des Headhunters Hanganu
nur ein «Tropfen auf den heissen
Stein». Mindestens 300 000 Arbeits-
kräfte fehlten in Rumänien.
«Es ist wie beim Roulette»
Die Zusammenarbeit mit Gastarbei-
tern aus Fernost scheitere oft, weil
etliche von ihnen das Klima und die
Kost in Rumänien nicht vertrügen,
sagt Andreea Tartacan, Mitarbeite-
rin von Colorful, der dpa. «Jetzt geht
der Trend dahin, zumindest für den
Bausektor Arbeiter aus Tadschikis-
tan anzuwerben. Sie sind wahr-
scheinlich körperlich robuster als
die Vietnamesen, weil die Tadschi-
ken aus der Steppe kommen», meint
die Expertin. Die Arbeiter aus Fern-
ost stellten für die Arbeitgeber we-
gen der Anpassungsschwierigkeiten
ein hohes Risiko dar. «Es ist wie
beim Roulette.» Einen Vorteil hätten
diese Gastarbeiter aber auf jeden
Fall: «Sie sind fleissig und seriös.»
Auch Bulgarien beschäftigt Gastar-
beiter, wenn auch nicht aus dem
ganz so fernen Osten wie in Rumäni-
en: In den Badeorten am Schwarzen
Meer kommen die Kellner und Zim-
mermädchen auch aus der Ukraine,
Weissrussland und Moldau. Die
westliche Politik scheint die Abwan-
derung anzuheizen: Im bitterarmen
Kosovo hat jüngst der deutsche Ge-
sundheitsminister Jens Spahn eine
Schule besucht, in der Pflegekräfte
aus dem Land für Deutschland aus-
gebildet werden. Auch die als Vor-
zeige-Gymnasium geltende Deut-
sche Schule im kosovarischen Priz-
ren gilt als Brain-Drain-Lokomotive.
Bis zu 30 Abiturienten pro Jahrgang
wird ein Ausbildungsvertrag in
Deutschland angeboten. Kaum einer
von ihnen ist nach der Ausbildung je
zurückgekehrt. Aus Sicht des Insti-
tuts für Arbeitsmarkt- und Berufs-
forschung (IAB) in Nürnberg profi-
tiert Deutschland von den Zuwande-
rern aus Südosteuropa. «Sie sind
meist jung, die Beschäftigungsquote
ist annähernd vergleichbar mit der
der Deutschen», sagt IAB-Migrati-
onsforscher Herbert Brücker. In di-
versen Branchen wie Bau, Pflege
und Gastronomie würde es ohne
diese Kräfte eng, da sich kaum deut-
sche Bewerber fänden. «Da findet
kein Verdrängungswettbewerb
statt», meint Brücker. Nach IAB-Er-
kenntnissen hat die Aussicht auf at-
traktive Jobs im Westen den Bil-
dungshunger gestärkt. In manchen
Ländern Ost- und Südosteuropas ha-
be sich die Akademikerquote deut-
lich erhöht, so Brücker. Hart ins Ge-
richt mit Berlin geht Tado Juric, Poli-
tologe und Bevölkerungsexperte an
der Katholischen Universität in Zag-
reb. Deutschland solle seine demo-
grafischen Probleme nicht durch Zu-
wanderung aus Südosteuropa zu lö-
sen versuchen. «Ich halte es für un-
fair, dass sich Deutschland auf unser
aller Kosten selbst rettet.» Die EU
müsse sich mit dem Problem der
«unfairen Migration» befassen, sag-
te Juric der dpa. «Wenn diese Trends
andauern, droht dieses Land Kroati-
en zu verschwinden.» (dpa)
Regierung könnte
ohne Neuwahlen
gebildet werden
Italien Der Rücktritt des Ministerpräsidenten Giuseppe Conte
lenkt die Aufmerksamkeit auf Innenminister Matteo Salvini.
Die
Frage lautet, ob der ein-
wandererfeindliche Salvini
an Neuwahlen kommt, um
sich die Regierungsspitze
zu sichern. Conte kritisierte Salvini
scharf – warf ihm vor, «unverant-
wortlich» zu sein und seine «eigenen
persönlichen Interessen» zu folgen,
indem er Neuwahlen herbeifüh-
ren will. Salvini teilte selbst aus; er
scheue «das Urteil von Italienern»
nicht. In erster Linie war Conte in
der vor 14 Monaten gebildeten Koa-
lition aus Salvinis rechter Lega und
der Fünf-Sterne-Bewegung ein Ver-
mittler. Ein neues Abkommen zwi-
schen Lega und Fünf Sternen ist in
weiter Ferne. Es gibt aber mehrere
Szenarien, in denen eine neue Regie-
rung ohne Neuwahlen gebildet wer-
den könnte.
Haushaltsgesetz belastet
Nach Contes Rücktritt am Dienstag
muss sich der italienische Präsident
Sergio Mattarella den Parteispitzen
für alternative Koalitionen zuwen-
den. Das Ganze passiert vor Gesprä-
chen über ein heikles Haushaltsge-
setz, das eine neue Konfrontation
zwischen Italien und der EU über
Defizitziele auslösen könnte. Wenn
der Haushalt für 2020 nicht richtig
aufgestellt ist, drohen eine massive
Mehrwertsteuererhöhung und wo-
möglich eine neue Rezession. Der
Haushalt muss der EU-Kommission
Mitte Oktober vorgelegt werden und
vom Parlament bis Jahresende ange-
nommen werden. Anfang des Mo-
nats hatte es die Lega nicht ge-
schafft, im Senat die Unterstützung
für einen Misstrauensantrag gegen
Conte zu bekommen. Ihr Koalitions-
partner tat sich mit der oppositio-
nellen Demokratischen Partei und
kleineren linksgerichteten Gruppen
zusammen, um den Antrag zu blo-
ckieren. Das zeigte, dass eine Alli-
anz zwischen der Fünf-Sterne-Bewe-
gung und der Demokratischen Par-
tei möglich ist, auch wenn sie tradi-
tionell bittere Rivalen sind.
Und Silvio Berlusconi?
Eine Koalition dieser Parteien könn-
te zwar auf heftigen Widerstand aus
den eigenen Reihen treffen. Einige
führende Demokraten, darunter der
Ex-Ministerpräsident Matteo Renzi,
halten eine Partnerschaft mit der
Fünf-Sterne-Bewegung aber für die
einzige Möglichkeit, Italien vor ei-
ner Salvini-Regierung zu retten. Der
Parteivorsitzende der Demokraten,
Nicola Zingaretti, befürchtet, dass
die Partei durch eine Koalition mit
der Fünf-Sterne-Bewegung bei den
nächsten Parlamentswahlen
schlecht abschneiden könnte. Kriti-
ker sorgen sich auch, dass Renzi auf
eine Rückkehr an die Regierung ab-
ziele und die Gründung einer eige-
nen Partei plane. Auch der frühere
Ministerpräsident Silvio Berlusconi
könnte mit seiner Mitte-rechts-Par-
tei Forza Italia in eine Koalition inte-
griert werden. Einige politische
Analysten haben angedeutet, dass
eine Regierung durch eine Grosse
Koalition zwischen der Linken, der
Fünf-Sterne-Bewegung und Forza
Italia stärker sein könnte. In politi-
schen Kreisen in Italien ist das als
«Ursula»-Option bekannt, weil diese
Parteien sich hinter die deutsche Po-
litikerin Ursula von der Leyen als
EU-Kommissionspräsidentin gestellt
hatten. Salvinis Partei Lega stimmte
gegen von der Leyen. Einer der Un-
terstützer der «Ursula»-Option ist
der frühere EU-Kommissionschef
Romano Prodi. Sollten die Koaliti-
onsgespräche scheitern, könnte
Mattarella eine Übergangsregierung
der grössten Parteien beantragen,
bei denen es sich wahrscheinlich
um dieselben Parteien wie in einer
Grossen Koalition handeln würde.
Diese hätte aber voraussichtlich ei-
ne kürzere Amtszeit. Eine Über-
gangsregierung könnte von Conte
angeführt werden. Sie wäre damit
betraut, den neuen Haushalt vorzu-
legen. Strenge Wirtschaftsmassnah-
men vor möglichen Neuwahlen
durchzusetzen, könnten der Lega
zum Vorteil werden. Analysten ver-
muten, dass eine Grosse Koalition
oder eine Übergangsregierung
«marktfreundlich» wäre, weil sie
das Unbehagen von Investoren we-
gen eines von der Lega beschlosse-
nen Haushalts beruhigen würde,
über den es wohl auch mit der EU
Streit geben würde. Sollte es keine
neue Regierung geben, müsste Mat-
tarella Neuwahlen ansetzen, die
schon Ende Oktober anstehen könn-
ten. Das will Salvini, weil seine
Chance auf das Ministerpräsiden-
tenamt aussichtsreich ist: Jüngeren
Umfragen wäre es möglich, dass sei-
ne Lega in einer rechtsgerichteten
Allianz mit Forza Italia und Brüder
Italiens mehr als 50 Prozent der
Stimmen bekommt. Salvini hat sei-
nen Gegnern vorgeworfen, Neuwah-
len um jeden Preis verhindern zu
wollen. Das sei ein «verzweifelter»
Versuch, ihre Sitze im Parlament
nicht zu verlieren. (ap)
Nach dem Rücktritt von Premier Giuseppe Conte hat der italienische Innenmi-
nister und Chef der rechtspopulistischen Lega, Matteo Salvini, seine Forderung
nach vorgezogenen Parlamentswahlen im Oktober bekräftigt. (Foto: RM)
Europarat
Putin: Wir reissen
uns nicht um eine
Mitgliedschaft
HELSINKI Russland will nicht unter al-
len Umständen Mitglied im Europa-
rat sein. «Was unsere Arbeit im Eu-
roparat anbelangt, so reissen wir
uns nicht darum», sagte Präsident
Wladimir Putin am Mittwochabend
bei einem Treffen mit seinem finni-
schen Amtskollegen Sauli Niinistö in
Helsinki der Agentur Interfax zufol-
ge. Finnland hat aktuell den Vorsitz
im Europarat. Niinistö betonte, es
sei wichtig, dass Russland erneut
Mitglied sei. «Es ist sehr wichtig,
dass Russland Teil der europäischen
Menschenrechtsorganisation ist.»
Russland hatte unlängst nach seiner
zeitweiligen Suspendierung wieder
alle Rechte als Mitglied der Parla-
mentarischen Versammlung des Eu-
roparates erhalten. (sda/dpa)
Missbrauchsurteil
Vatikan wartet
auf letzte Instanz
ROM Nach der Bestätigung des Miss-
brauchsurteils gegen den australi-
schen Kardinal George Pell will der
Vatikan auf das letztinstanzliche
Urteil in dem Fall warten. Der Kar-
dinal habe während des Gerichts-
verfahrens stets seine Unschuld be-
teuert, erklärte Vatikan-Sprecher
Matteo Bruni am Mittwoch. Es sei
Pells Recht, auch noch das höchste
australische Gericht, den High
Court, anzurufen. Pell und seine
Anwälte liessen am Mittwoch noch
offen, ob sie davon Gebrauch ma-
chen werden. Der Oberste Gerichts-
hof in Melbourne hatte zuvor eine
Verurteilung des 78-Jährigen aus
erster Instanz wegen Missbrauchs
von zwei minderjährigen Chorkna-
ben bestätigt. Der ehemalige Fi-
nanzchef muss im Gefängnis blei-
ben und kann damit frühestens
2022 entlassen werden. (sda/dpa)