Volltext: Liechtensteiner Volksblatt (2019)

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14. JUNI 2019 
Die 
erstgenannte Behörde 
wirft der zweiten vor, nütz- 
liche Daten zur Aufsicht 
über die grössten europä- 
ischen Banken zurückgehalten zu 
haben. Ohne diese Informationen, 
behauptet der Rechnungshof, kön- 
ne er die «operative Effi  zienz des 
Krisenmanagements» der EZB nicht 
richtig bewerten und fühle sich 
daher in der Ausübung seines im 
«Vertrag über die Arbeitsweise der 
Europäischen Union» (AEUV) festge- 
legten Auftrags behindert. 
In einer schriftlichen Antwort auf 
die Anfrage eines Abgeordneten be- 
stritt EZB-Präsident Mario Draghi, 
dass sein Institut jemals die Offenle- 
gung von Prüfungsinformationen 
verweigert habe. Im Gegenteil, sagte 
er, der Rechnungshof habe «mehr 
als 500 Dokumente mit insgesamt 
fast 6000 Seiten Dokumentation» 
erhalten, und 38 Sitzungen und Te- 
lefonkonferenzen wurden abgehal- 
ten, während der Rechnungshof sei- 
nen Sonderbericht über die Banken- 
aufsicht der EZB erstellte. 
Die Wurzeln dieser zwischenbe- 
hördlichen Verstimmung lassen sich 
auf offenbar widersprüchliche Be- 
stimmungen im AEUV selbst zurück- 
führen. Artikel 287 stattet den Rech- 
nungshof eindeutig mit Prüfungsbe- 
fugnissen gegenüber der EZB aus, 
Artikel 282 sieht jedoch vor, dass die- 
se «bei der Ausübung ihrer Befugnis- 
se und bei der Verwaltung ihrer Fi- 
nanzen unabhängig» sei und daher 
von «EU-Organen, Einrichtungen, 
Büros oder Behörden, einer nationa- 
len Regierung oder einer anderen In- 
stitution» keine «Weisungen einho- 
len oder entgegennehmen» darf, er- 
läuterte Sabine Lautenschläger, Vor- 
standsmitglied der EZB, im Juni 2017 
in einem Brief an Christine Lagarde, 
die Geschäftsführerin des Internati- 
onalen Währungsfonds (IWF). 
Seit ihrer Gründung im Jahr 
1998 gilt die in Frankfurt 
ansässige Institution als 
eine der unabhängigsten 
Zentralbanken der Welt. 
Unabhängigkeit bedeutet indes 
nicht, dass die EZB nicht rechen- 
schaftspflichtig wäre. Die Frage des 
richtigen Gleichgewichts zwischen 
der Unabhängigkeit der EZB und ih- 
rer Rechenschaftspflicht ist in der 
Praxis jedoch noch lange nicht ge- 
klärt, zumal sich das Mandat der 
Bank seit der globalen Finanzkrise 
erheblich gewandelt hat. 
Die erste Aufgabe der Bank bestand 
in der Einführung der gemeinsamen 
Währung der Eurozone. Bei der Aus- 
übung ihrer geldpolitischen Stan- 
dardfunktion unterlag die EZB von 
Anfang an einer Reihe von Verfas- 
sungsverboten, um zu verhindern, 
dass sie in die Vorrechte der Fiskal- 
politik eingreift. Erstens verbietet 
die sogenannte «No-Bail-Out-Klau- 
sel» der EZB die Rettung überschul- 
deter Staaten. Zweitens verbietet Ar- 
tikel 123 Absatz 1 AEUV der Bank, 
Schuldtitel direkt von Regierungen 
zu kaufen. 
Während die EZB ihre 
Macht ausbaute, versuchte 
sie, rechenschaftspfl ichtiger 
zu erscheinen. 
Das erste Jahrzehnt der EZB glich ei- 
nem gemütlichen Spaziergang. Dann 
setzte der Tsunami, der 2008 durch 
den Zusammenbruch von Lehman 
Brothers ausgelöst wurde, der ruhi- 
gen Ära der «Grossen Mässigung» 
ein jähes Ende. 
Angesichts einer Kaskade schwerer 
europäischer Bankenzusammenbrü- 
che, die drohte, hoch verschuldete 
Regierungen mit sich in den Abgrund 
zu ziehen, musste die EZB ihren Akti- 
onsbereich bald erheblich ausweiten. 
Als die Staatsschuldenkrise 2012 es- 
kalierte, erklärte Draghi in einer 
mittlerweile berühmten Rede, dass 
die EZB im Rahmen ihres Mandats 
«alles tun werde», um den Euro ge- 
gen destruktive Spekulationen zu 
schützen. Diese Worte allein genüg- 
ten, um die Märkte für Staatsanlei- 
hen zu stabilisieren. Dank der quanti- 
tativen Lockerung hält die EZB heute 
gigantische Portfolios an Staatsanlei- 
hen. Gleichzeitig überwacht sie die 
Finanzindustrie. Durch den «Einheit- 
lichen Aufsichtsmechanismus» (Sing- 
le Supervisory Mechanism, SSM) be- 
aufsichtigt die Zentralbank «direkt» 
117 der grössten kommerziellen Kre- 
ditgeber in Europa (die zusammen 82 
Prozent des Bankvermögens der Eu- 
rozone repräsentieren) und übt über 
alle anderen eine «indirekte» Auf- 
sicht aus. Im Jahrzehnt nach der Kri- 
se hat sich die EZB als dominierende 
Kraft in der europäischen Gover- 
nance behauptet. 
Bei gleichzeitiger Ausweitung ihres 
Anwendungsbereichs hat die EZB ih- 
re Bemühungen verstärkt, rechen- 
schaftspflichtiger zu erscheinen – 
vor allem durch eine bessere Kom- 
munikation über ihre Ziele und 
Massnahmen. Zu diesem Zweck hat 
die Bank verschiedene Kanäle ge- 
nutzt, darunter Onlineveröffentli- 
chungen, Informationskampagnen, 
Prognoseberichte, Pressekonferen- 
zen und öffentliche Ansprachen. 
Dennoch verbirgt die durchschei- 
nende Oberfläche einen gewissen 
Grad an Intransparenz. In einem Be- 
richt aus dem Jahr 2017 hat Transpa- 
rency International (TI) eine Reihe 
von institutionellen Mängeln bei der 
EZB beschrieben. Eine davon ist die 
nicht so richtig unparteiische Ethik- 
kommission der Zentralbank, deren 
Vorsitz der frühere Präsident Jean- 
Claude Trichet innehat. 
Darüber hinaus sind Interessenkon- 
flikte, Insiderhandel und der unzu- 
lässige Einfluss von Lobbyisten ein 
Problem. In den vergangenen Jahren 
haben einige der obersten Aufseher 
und leitenden Angestellten der EZB 
nach Ablauf ihrer Mandate finanziell 
lukrative Jobangebote aus der Pri- 
vatwirtschaft erhalten. Das funktio- 
niert natürlich auch andersherum 
(Draghi zum Beispiel war vor seiner 
Berufung in die EZB Vizepräsident 
von Goldman Sachs Europe). 
Nach EU-Recht kann nur der Ge- 
richtshof der Europäischen Union 
(EuGH) Sanktionen für nachgewie- 
sene Verstösse oder Fehler verhän- 
gen. Doch der EuGH hat in den selte- 
nen Beschwerden, auf die er sich be- 
zieht, von diesem Vorrecht noch kei- 
nen Gebrauch gemacht. 
Die Hälfte des EZB- 
Vorstandes und ein 
Drittel des EZB-Rates 
wird noch in diesem 
Jahr ausgetauscht. 
Ein häufig genanntes Beispiel hier- 
für ist die kontroverse Rolle der EZB 
in der Troika. Zusammen mit der 
Europäischen Kommission und dem 
IWF hatte die Zentralbank Griechen- 
land gezwungen, einschneidende 
Sparmassnahmen im Austausch ge- 
gen massive Kredite zu akzeptieren. 
Andere hoch verschuldete EU-Län- 
der (wie Irland, Zypern, Portugal 
und Spanien) wurden später zu 
kaum weniger drastischen Bedin- 
gungen gerettet. Die Beteiligung der 
EZB an diesen Operationen wurde 
weitgehend als Verstoss gegen die 
«No-Bail-Out-Klausel» verurteilt. Auf 
Initiative eines irischen Parlaments- 
mitglieds wurde der Fall 2012 vor 
das EU-Gericht gebracht. Am Ende 
entschied der EuGH jedoch, dass die 
EZB ihr Mandat nicht überschritten 
habe, obwohl die Richter umfassen- 
de formale Verzerrungen vorneh- 
men mussten, um zu diesem Schluss 
zu kommen. 
Die künftige Entwicklung der Unab- 
hängigkeit der EZB wird momentan 
durch die Tatsache eingetrübt, dass 
die Hälfte ihres Vorstands (ein- 
schliesslich ihres charismatischen 
Präsidenten) sowie mehr als ein 
Drittel ihres Rates in diesem Jahr 
ausgetauscht werden. 
Die zukünftige Geldpolitik wird 
weitgehend vom Format dieser neu- 
en Entscheidungsträger geprägt 
sein, die sich bald (erneut) mit einer 
sich verlangsamenden europäischen 
Wirtschaft auseinandersetzen müs- 
sen. Es wäre nicht gut, wenn man 
bei ihrer Auswahl der Politik den 
Vorzug vor den Qualifikationen ge- 
ben würde. Dies dürfte das wichtigs- 
te Kapital der EZB verschwenden: 
das Vertrauen, das sie in Krisenzei- 
ten schaffen kann. 
Europäische Zentralbank – Unabhängig 
und nicht rechenschaftspfl ichtig? 
 Seit einigen Jahren findet ein «Dialog der Gehörlosen» zwischen dem Europäischen Rechnungshof (EuRH) 
und der Europäischen Zentralbank (EZB) statt. Ein GIS-Beitrag der Finanzfachfrau Elisabeth Krecké. 
Über die GIS-Expertin 
Ökonomin mit 
Verständnis für 
Interaktionsmuster 
Elisabeth Krecké war Professorin für 
Wirtschaftswissenschaften an der 
Universität Aix-Marseille in Frankreich, 
wo sie 1993 in Wirtschaftswissen- 
schaften doktorierte. 
Seit 2015/16 ist sie als politische Bera- 
terin beim Finanzministerium ihres 
Heimatlandes Luxemburg engagiert. 
Zuvor lehrte Krecké an der Universität 
für Wissenschaft und Technologie in Lil- 
le. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt in 
den interagierenden Bereichen der öko- 
nomischen Analyse von Recht und der 
politischen Ökonomie der Regulierung. 
Ein Grossteil der früheren Arbeiten von 
Professor Krecké konzent- 
riert sich auf die Methodik 
der ökonomischen Analyse 
von Gesetzen. Sie hat Arti- 
kel in verschiedenen Sam- 
melbänden und internatio- 
nalen Fachzeitschriften 
veröffentlicht, die sich auf 
dieses Gebiet spezialisiert 
haben. Sie gehörte zudem 
zu den Mitherausgebern ei- 
nes Sammelbandes über 
Verhaltensstudien, Kogniti- 
on und Wirtschaft (Elsevier JAI, 2007), in 
dem Spezialisten aus den Bereichen Wirt- 
schaft, Recht, Kognitionspsychologie so- 
wie Geistes- und Neuro- 
wissenschaften aktuelle 
Trends in den modernen 
Sozialwissenschaften be- 
werteten und die Er- 
kenntnisse der Verhal- 
tensforschung auf die 
ökonomische und rechtli- 
che Analyse anwendeten. 
Jüngere Forschungsar- 
beiten von Professor 
Krecké widmen sich ins- 
besondere der Untersu- 
chung von Interaktionsmustern zwischen 
den immer komplexeren EU-Regulie- 
rungsrahmen und -märkten. 
Das «Volksblatt» gibt Gastautoren Raum, 
ihre Meinung zu äussern. Diese muss nicht 
mit jener der Redaktion übereinstimmen. 
Copyright: Geopolitical Intelligence 
Services AG, GIS, Vaduz. 2019. 
Mehr auf www.gisreportsonline.com. 
(Symbolfoto: RM/APA/DPA/Boris Roessler)
	        

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