FREITAG
31. MAI
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VON ZVI MAZEL
Viele
Jahre lang blieb die
Grenze zwischen dem Li-
banon und Israel friedlich.
Es gab keine gegenseitigen
territorialen Ansprüche und viele
prognostizierten, dass der Libanon
das erste arabische Land sein wer-
de, das Frieden mit dem jüdischen
Staat schliesst. Nach der Gründung
der Hisbollah durch den Iran im Jahr
1982 ist diese Grenze jedoch zu einer
der instabilsten Israels geworden.
Dies dürfte sich auf absehbare Zeit
nicht ändern.
Die von Teheran finanzierte und be-
waffnete schiitische Hisbollah-Be-
wegung wird von grossen westli-
chen Ländern wie den Vereinigten
Staaten, Kanada, den Niederlanden
und dem Vereinigten Königreich so-
wie Japan, der Arabischen Liga und
dem Golf-Kooperationsrat als Ter-
rororganisation gebrandmarkt.
Die Hisbollah plant wohl
weiterhin den Durchbruch
der Grenze zu Israel, ein
Eindringen in die Region
Galiläa. Israel warnt nun,
dass es dem Libanon dann
einen tödlichen Schlag
versetzen werde.
In jüngster Zeit haben sich die Span-
nungen noch weiter verschärft, was
den neuen Chef der «Israelischen
Verteidigungsstreitkräfte», General-
major Yoel Strick, dazu veranlasste,
am 18. April eine Warnung herauszu-
geben. Ihm zufolge plant die Hisbol-
lah weiterhin den Durchbruch der
Grenze und ein Eindringen in die
Region Galiläa – doch sollte sie das
versuchen, würde man dem Libanon
einen tödlichen Schlag versetzen.
«Im nächsten Krieg», fügte General
Strick hinzu, «wäre es für uns ein
Fehler, eine Unterscheidung zwi-
schen dem libanesischen Staat und
der Hisbollah vorzunehmen, da die
Hisbollah ein politischer Akteur und
Teil der Regierung ist.»
Die Warnung erfolgte im Zuge der
Entdeckung von nicht weniger als
sechs unterirdischen Tunneln im
Rahmen der von der israelischen Ar-
mee durchgeführten «Operation
North Shield». Die Tunnel, behaup-
teten israelische Beamte, wurden
von libanesischem Territorium aus
unter der Grenze errichtet, um Hun-
derte von Hisbollah-Kämpfern nach
Israel zu schleusen, die dann den
Überraschungsmoment ausnutzen
und die nördliche Stadt Metula so-
wie die umliegenden Dörfer einneh-
men könnten.
Das sollte nur die Speerspitze einer
Invasion Galiläas sein – dem erklär-
ten Ziel der Hisbollah seit vielen Jah-
ren –, begleitet von gleichzeitigen
Raketenstarts aus dem Libanon und
aus Syrien, anderen Bodenangriffen
sowie Überfällen auf israelische Off-
shore-Gas-Plattformen. Diese Bedro-
hung durch die Hisbollah hat den Li-
banon gegen dessen eigene Interes-
sen zu einem Hauptziel der israeli-
schen Armee werden lassen.
Die israelisch-libanesischen Bezie-
hungen begannen sich zu verschlech-
terten, nachdem König Hussein von
Jordanien Yasser Arafat und dessen
«Palästinensische Befreiungsorgani-
sation» (PLO) nach dem Aufstand der
Terrorgruppe «Schwarzer Septem-
ber» 1970 aus dem Land geworfen
hatte. Arafat und seine «Fedayeen»-
Kämpfer zogen in den Libanon weiter
und bald darauf kam es zum libanesi-
schen Bürgerkrieg, der 1976 zu einer
syrischen Intervention führte.
Diese unruhigen Zeiten erleichter-
ten die Absicht des Irans, die Hisbol-
lah als Stellvertreter-Organisation zu
etablieren, und sie trieben sein Ziel,
den jüdischen Staat zu beseitigen,
voran. Die einst friedliche Grenze
wurde zur Konfliktzone. Eine endlo-
se Reihe von Terroranschlägen führ-
te zu Vergeltungsmassnahmen Isra-
els, die zu ausgewachsenen Kriegen
eskalierten: Der erste vertrieb die
PLO 1982 aus dem Libanon. 1993,
1996 und 2006 kam es dann zu Kon-
frontationen mit der Hisbollah.
Unterdessen verfolgte die Terroror-
ganisation ein weiteres Ziel: ein
wichtiger Akteur in der libanesi-
schen Politik zu werden. Bereits
1992 wurden mehrere Abgeordnete
ins Parlament gewählt. Von da an er-
zielte die Hisbollah immer grössere
Erfolge – zusammen mit ihren bei-
den Verbündeten, der schiitischen
«Amal-Partei» und der «Freien Patri-
otischen Bewegung» von Michel
Aoun, einem maronitischen Chris-
ten, der Präsident des Landes ist. Im
Mai 2018 gewannen die Hisbollah
und ihre beiden Verbündeten bei
den Parlamentswahlen 72 von insge-
samt 128 Sitzen.
Die Hisbollah ist der
libanesische Königsmacher.
Sie ist immer in der Lage,
der Regierung ihren Willen
aufzuzwingen. Und sie
verfügt über eine mächtige
und bedrohliche Armee.
Von den 30 Ministern der neuen Re-
gierung kommen 18 aus dem Hisbol-
lah-Lager und 12 aus der sunniti-
schen Fraktion von Premierminister
Saad al-Hariri. Kurz gesagt, die His-
bollah ist der libanesische Königs-
macher – sie ist in der Lage, der Re-
gierung bei jeder Angelegenheit ih-
ren Willen aufzuzwingen, und sie
verfügt über eine mächtige und be-
drohliche Armee.
Innerhalb des Libanons half der Iran
seiner Stellvertreter-Organisation,
die Anzahl ihrer Raketen und die Fä-
higkeit, sie vor Ort zu produzieren,
zu erhöhen. Die Hisbollah besitzt
jetzt schätzungsweise 150 000 Rake-
ten, die meisten ohne Leitsystem,
obwohl derzeit Anstrengungen un-
ternommen werden, um sie präziser
fliegen zu lassen. Der Iran versucht
unablässig, Leitsysteme und die Ma-
terialien zu ihrer Herstellung durch
Syrien zu schleusen. Zu diesem
Zweck scheint er eine Fabrik in der
Nähe des russischen Hmeimim-Luft-
waffenstützpunktes in Latakia (Sy-
rien) errichtet zu haben – und ver-
liess sich dabei wohl auf die Zurück-
haltung Israels, einen derartig sen-
siblen Ort anzugreifen.
In seinen Ausführungen auf der UN-
Generalversammlung im vergange-
nen September hat der israelische
Ministerpräsident Benjamin Netan-
jahu die Existenz von drei verborge-
nen Fabriken im Libanon und deren
genaue Lage im Herzen von Beirut
aufgedeckt. US-Aussenminister Mike
Pompeo hatte vor seinem Besuch im
Libanon Mitte März Einzelheiten
über einen vierten Standort erfah-
ren und das Problem bei den libane-
sischen Machthabern angesprochen.
Pompeo: «Der Libanon und das liba-
nesische Volk stehen vor einer Wahl:
mutig als unabhängige und stolze
Nation nach vorne zu blicken, oder
sich die eigene Zukunft von den fins-
teren Ambitionen des Irans und der
Hisbollah diktieren zu lassen.»
Mit der Verschärfung der Wirt-
schaftssanktionen gegen den Iran hat
sich die Unterstützung Teherans für
die Hisbollah, die jedes Jahr 700 Mil-
lionen US-Dollar umfasste, erheblich
verringert. Die finanziell angeschla-
gene Organisation bittet um öffentli-
che Spenden, stellt Sammelboxen in
ganz Beirut auf und fordert die Bür-
ger in sozialen Medien auf, «der Or-
ganisation, die den Libanon schützt»,
so viel wie möglich zu geben. Die
Aufdeckung ihres wichtigsten strate-
gischen Vorteils, nämlich der Tun-
nel, die am Beginn einer lang ge-
planten Invasion Israels Panik auslö-
sen sollten, war ein schwerer Schlag
für die Hisbollah. Hassan Nasrallah,
ihr Anführer, der normalerweise
schnell auf Entwicklungen reagiert,
schwieg monatelang.
Der Erfolg der Hisbollah bei den
Wahlen 2018 war ebenfalls ein zwei-
schneidiges Schwert. Die Terrororga-
nisation ist jetzt an der Führung des
Landes beteiligt und wird für dessen
wirtschaftliche und soziale Entwick-
lung zur Rechenschaft gezogen. Eine
bewaffnete Konfrontation mit Israel
würde massive Zerstörungen nach
sich ziehen und den Libanon um vie-
le Jahre zurückwerfen. In der Tat be-
eilte sich Nasrallah, Vorwürfe, wo-
nach er im Sommer einen Krieg be-
ginnen würde, zu widerlegen.
Israel, Iran, der Libanon:
Ein Funke aus einem kleinen
Zwischenfall könnte einen
Krieg entzünden, den keine
Seite möchte.
Obwohl die US-Sanktionen das Land
und seine Bevölkerung in Mitleiden-
schaft ziehen, bleibt der Iran eine
klare Bedrohung für Israel, solange
die Ayatollahs an der Macht sind.
Ein Funke aus einem kleinen Zwi-
schenfall könnte einen Krieg ent-
zünden, den keine Seite möchte.
Aus israelischer Sicht gefährdet
die Hisbollah den Libanon
Bei den Wahlen im Vorjahr wurde die bewaffnete schiitische Hisbollah-Bewegung in die libanesische Regierung geschickt. In den USA, Kanada, Gross-
britannien, im Vereinigten Königreich, in Japan und bei der Arabischen Liga und dem Golf-Kooperationsrat gilt sie weiterhin als Terrororganisation.
Über den GIS-Experten
Ehemaliger
Botschafter
Zvi Mazel (1939 geboren, verheiratet,
Vater zweier Kinder) ist ein ehemaliger
israelischer Diplomat. Er war von 1993
bis 1996 stellvertretender Generaldirek-
tor im israelischen Aussenministerium
und als solcher mit afrikanischen Ange-
legenheiten betraut. Er war Botschafter
in Rumänien (1989 bis 1992), in Ägypten
(1996 bis 2001) und in Schweden (2002
bis 2004). Im Ministerium hatte er neben
anderen Positionen auch die des Direk-
tors der ägyptischen und nordafrikani-
schen Abteilung (1983–1984) sowie der
Osteuropa-Abteilung (1992–1993) inne.
Er ist ein führender Experte in Angele-
genheiten des Nahen Ostens und ein
Mitglied des Jerusalem Center for Public
Affairs (JCPA), einem Thinktank, der sich
auf israelische Sicherheit, Diplomatie
und Völkerrecht spezialisiert. Er war Re-
dakteur der arabischen Webseite des
JCPA und hat zahlreiche Publikationen
zu Fragen des Nahen Ostens verfasst.
Etwa in Hebräisch, Englisch, Französisch
und Arabisch auf verschiedenen
Medienkanälen.
Das «Volksblatt» gibt Gastautoren Raum,
ihre Meinung zu äussern. Diese muss nicht
mit jener der Redaktion übereinstimmen.
Copyright: Geopolitical Intelligence
Services AG, GIS, Vaduz. 2019.
Mehr auf www.gisreportsonline.com.
Ist er der Kopf einer Terroror-
ganisation? Hisbollah-Chef Say-
yed Hassan Nasrallah, gefi lmt
bei einer am 22. April vor Pfad-
fi ndern in Beirut gehaltenen Rede.
(Foto: Keystone/EPA/AL-Manar-TV)