Volltext: Liechtensteiner Volksblatt (2019)

SAMSTAG 
4. MAI 
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Auch der vermeintliche inoffi  zielle Führer der 
italienischen Regierung, Matteo Salvini, wirkt 
mitunter ratlos, wenn er nicht das Fremde 
attackieren kann. (Foto: RM/AFP/Attila Kisbenedek) 
Die Italiener lernen Chinesisch: Sollten 
andere in der EU ihrem Beispiel folgen? 
Italiens 
Aussenpolitik schaff t 
es nur selten in die Schlagzei- 
len der globalen Medien. Sei- 
ne politischen Führungskräfte 
konzentrieren sich eher auf die In- 
nenpolitik. Auf der internationalen 
Ebene folgt Rom nur allzu gerne 
den Richtlinien, die die Vereinigten 
Staaten und das NATO-Bündnis vor- 
geben. In einigen Fällen stellte sich 
heraus, dass dieser stille Gehorsam 
nicht den Interessen Italiens diente 
(wie beispielsweise die Militärakti- 
on gegen den libyschen Machthaber 
Muammar Gaddafi   im Jahr 2011). 
Insgesamt betrachtet der Westen Ita- 
lien als treuen Verbündeten, sowohl 
militärisch als auch hinsichtlich der 
globalen Aussenhandelsstrategie. 
Nachdem sie recht fragwürdige Re- 
formen zum Nachteil des Wirt- 
schaftswachstums und einer Bud- 
getsanierung eingeleitet hatte, ge- 
lang es der italienischen Regierung 
im März schliesslich doch noch, die 
westlichen Diplomaten in Unruhe zu 
versetzen: Sie hatte ihre eigene Aus- 
senpolitik mit China begonnen und 
sich der Initiative «Neue Seidenstras- 
se» angeschlossen – offenbar ohne 
eine vorherige Konsultation mit 
Brüssel oder Washington. 
Die Interessen Italiens 
stimmen nicht unbedingt 
mit jenen Deutschlands und 
Frankreichs überein. 
Die Folgen des Besuchs des chinesi- 
schen Präsidenten Xi Jinping im 
März in Italien sind zweierlei. Rom 
und Peking haben vereinbart, eine 
gemeinsame Strategie zu verfolgen, 
um die gegenseitigen Handels- und 
Investitionsströme zu intensivieren 
und gemeinsame technologische 
Projekte zu entwickeln. Darüber hi- 
naus hat Italien beschlossen, eine 
aktive Rolle bei der «Asian Infra- 
structure Investment Bank» zu über- 
nehmen. Vereinfacht gesagt, hat Ita- 
lien damit entschieden, seine eige- 
nen Handels- und Finanzbeziehun- 
gen zu China einzugehen und die 
Möglichkeit zu ignorieren, zusam- 
men mit seinen EU-Partnern eine ge- 
meinsame Herangehensweise zu 
entwickeln. 
Was hatte diese Entscheidung ausge- 
löst? Die nicht so glaubwürdigen po- 
litischen Entscheidungsträger sind 
bestrebt, starke institutionelle Fi- 
nanzinvestoren zu finden, die bereit 
sind, die immer umfangreichere 
Staatsverschuldung Italiens und 
möglicherweise die Entwicklung 
neuer Infrastrukturen zu finanzie- 
ren. (Genua und Triest wollen chine- 
sische Anlagen.) Sie versuchen zu- 
dem, neue Geschäftsmöglichkeiten 
anzuziehen, um das stagnierende 
Unternehmertum des Landes zu be- 
leben und eine anhaltende Rezessi- 
on zu vermeiden. 
Den italienischen Politikern ist zu- 
dem klar, dass Deutschland und 
Frankreich die künftige Gestaltung 
der EU-Handelsbeziehungen mit der 
Welt bestimmen werden. Doch die 
Interessen Italiens stimmen nicht 
unbedingt mit denen der beiden 
grössten EU-Mitglieder überein. 
Aus Sicht Pekings ist Italien ein mög- 
liches Sprungbrett für die Entwick- 
lung der chinesischen Produktion 
im EU-Raum. Frankreich und 
Deutschland neigen derzeit eher da- 
zu, ihre eigenen technologischen 
Vorreiter-Unternehmen zu fördern 
und die Chinesen vom Eintritt in 
den europäischen Technologie- 
markt abzuhalten, insbesondere in 
der Fertigung. Der Weg über Italien 
wird als Versuch betrachtet, derarti- 
ge Barrieren zu umgehen. 
Italien braucht Hilfe von aussen, und 
im Moment kann eine solche Hilfe 
nur aus China kommen. Für die Chi- 
nesen sind der italienische Schatz- 
wechsel und seine angeschlagenen 
Unternehmen wie Alitalia viel wert- 
voller, als die Marktpreise vermuten 
lassen (aber dennoch weniger Wert, 
als die italienischen Politiker vermu- 
ten). Vor diesem Hintergrund muss 
Italien nach vorne preschen, bevor 
die EU ihre eigenen Strategien ge- 
genüber Peking entwickelt. 
Was hält die Zukunft bereit? Geopoli- 
tische Manöver sind eine Mischung 
aus Macht, Glaubwürdigkeit und po- 
litischer List. Unbestritten, den jetzi- 
gen italienischen Regierungschefs 
fehlt Kultur und Listigkeit, um mit 
den wichtigsten Akteuren der Welt- 
bühne zu interagieren. Es ist auch 
nicht zu leugnen, dass ihre Unzu- 
länglichkeit die Glaubwürdigkeit Ita- 
liens gefährdet. Die entscheidende 
Frage lautet daher, ob die EU eine ge- 
meinsame Politik gegenüber China 
verfolgen wird und ob sie unsichere 
Provokationen ignorieren kann. Itali- 
en macht zwar derzeit Schlagzeilen, 
aber das Land ist keine Ausnahme: 
2016 liess Griechenland ebenfalls die 
Chinesen herein. Andere könnten in 
Zukunft folgen, vor allem, wenn sich 
die EU für deren Bedürfnisse als 
nicht geeignet erweist. 
Geopolitische Manöver 
sind eine Mischung aus 
Macht, Glaubwürdigkeit 
und politischer List. 
Es gibt zwei verschiedene Möglich- 
keiten. In einem Szenario würden 
die EU-Behörden darauf bestehen, 
eine Regulierung in Betracht zu zie- 
hen, die die nationalen Vorreiter-Un- 
ternehmen als Schlüssel für die künf- 
tige wirtschaftliche Entwicklung 
Westeuropas und als Hauptgrund für 
eine kontinentale Industriepolitik 
ausweist. Dies würde zu Subventio- 
nen und zur Abschottung gegen aus- 
ländische Wettbewerber führen – so- 
wie zu Schwierigkeiten bei der Grün- 
dung von Unternehmen, die gross 
genug sind, um die hohen Kosten ei- 
ner langfristigen technologischen 
Entwicklung zu tragen. 
Das wäre also eine etwas riskante 
Entwicklungsstrategie. Ein bürokra- 
tisiertes und stark reguliertes Euro- 
pa mag die Amerikaner erfreuen, 
insbesondere wenn Brüssel der aus- 
senpolitischen Führung Washing- 
tons folgt. In einem solchen Kontext 
dürfte Europa jedoch kaum zur Hei- 
mat von bahnbrechenden Innovatio- 
nen und siegreichen Wettbewerbern 
werden. China könnte zwar in 
Schach gehalten werden, aber die 
besten Unternehmen Europas wür- 
den schliesslich wegziehen. 
In diesem Rahmen scheint Italiens 
Entscheidung nicht hilfreich zu sein. 
Sie ist jedoch realistisch. Wenn den 
europäischen Volkswirtschaften ir- 
gendwann einmal der Schwung aus- 
geht,  wird sich auch Brüssel nach ir- 
gendeiner Art von wirtschaftlicher 
Unterstützung umsehen müssen. Ita- 
lien macht kein Geheimnis daraus, 
dass jede Hilfe, unabhängig von ihrer 
Herkunft, willkommen ist. Eine frü- 
he und privilegierte chinesische Qua- 
si-Kolonie zu sein, könnte einige Vor- 
teile mit sich bringen. Dann käme es 
zu weiteren Spannungen, aber Ber- 
lin, Paris (oder Washington) könnten 
dagegen nur wenig unternehmen. 
Ein zweites – und unwahrscheinli- 
cheres – Szenario würde eintreten, 
falls sich die Europäer dazu ent- 
schliessen würden, den Kurs zu än- 
dern. Wenn sie also anerkennen, 
dass Peking zum Spitzenreiter ge- 
worden ist und sie sich bemühen 
würden, durch eine Liberalisierung 
der Handelsströme aufzuholen und 
auf eine Industriepolitik zu verzich- 
ten (einschliesslich kartellrechtli- 
cher Regelungen). In diesem Szena- 
rio würde jedes Land eigene Mög- 
lichkeiten für eine intensivere Zu- 
sammenarbeit ausloten. Ein isolier- 
ter Umgang mit den Chinesen ist 
wahrscheinlich nicht die beste Stra- 
tegie, in der Tat wäre ein einheitli- 
cher EU-Ansatz vorzuziehen. 
Doch momentan scheinen die EU- 
Behörden nicht bereit zu sein, sich 
auf eine Welt einzulassen, in der die 
Chinesen die Zukunft gestalten. 
Brüssel scheint diese Welt gar nicht 
vollständig zu verstehen, geschwei- 
ge denn, dass es das Wissen besässe, 
deren Vorteile auszunutzen. Falls 
Europa doch noch halten könnte, 
was es verspricht, hätten die Italie- 
ner schliesslich keine gewagten und 
(teilweise) neuen Verpflichtungen 
eingehen müssen. 
Italien braucht Hilfe von aussen, und im Moment kann 
eine solche Hilfe nur aus China kommen, schreibt der 
GIS-Experte Enrico Colombatto in seiner Analyse. 
Über den GIS-Experten 
Ökonomieprofessor 
an der Uni Turin 
Enrico Colombatto (Foto) hält einen 
MSc in Economics (London School of 
Economics, 1978) sowie einen PhD in 
Economics (London School of Econo- 
mics, 1983) und ist Professor für Öko- 
nomie an der Universität Turin in Italien. 
Lehrschwerpunkte: Grundlagen des po- 
litischen Entscheidungsprozesses, 
Wachstums- und Entwicklungstheorie 
und Internationale Wirtschaft. 
Das «Volksblatt» gibt Gastautoren Raum, 
ihre Meinung zu äussern. Diese muss nicht 
mit jener der Redaktion übereinstimmen. 
Copyright: Geopolitical Intelligence 
Services AG, GIS, Vaduz. 2019. 
Mehr auf www.gisreportsonline.com.
	        

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