SAMSTAG
4. MAI
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Auch der vermeintliche inoffi zielle Führer der
italienischen Regierung, Matteo Salvini, wirkt
mitunter ratlos, wenn er nicht das Fremde
attackieren kann. (Foto: RM/AFP/Attila Kisbenedek)
Die Italiener lernen Chinesisch: Sollten
andere in der EU ihrem Beispiel folgen?
Italiens
Aussenpolitik schaff t
es nur selten in die Schlagzei-
len der globalen Medien. Sei-
ne politischen Führungskräfte
konzentrieren sich eher auf die In-
nenpolitik. Auf der internationalen
Ebene folgt Rom nur allzu gerne
den Richtlinien, die die Vereinigten
Staaten und das NATO-Bündnis vor-
geben. In einigen Fällen stellte sich
heraus, dass dieser stille Gehorsam
nicht den Interessen Italiens diente
(wie beispielsweise die Militärakti-
on gegen den libyschen Machthaber
Muammar Gaddafi im Jahr 2011).
Insgesamt betrachtet der Westen Ita-
lien als treuen Verbündeten, sowohl
militärisch als auch hinsichtlich der
globalen Aussenhandelsstrategie.
Nachdem sie recht fragwürdige Re-
formen zum Nachteil des Wirt-
schaftswachstums und einer Bud-
getsanierung eingeleitet hatte, ge-
lang es der italienischen Regierung
im März schliesslich doch noch, die
westlichen Diplomaten in Unruhe zu
versetzen: Sie hatte ihre eigene Aus-
senpolitik mit China begonnen und
sich der Initiative «Neue Seidenstras-
se» angeschlossen – offenbar ohne
eine vorherige Konsultation mit
Brüssel oder Washington.
Die Interessen Italiens
stimmen nicht unbedingt
mit jenen Deutschlands und
Frankreichs überein.
Die Folgen des Besuchs des chinesi-
schen Präsidenten Xi Jinping im
März in Italien sind zweierlei. Rom
und Peking haben vereinbart, eine
gemeinsame Strategie zu verfolgen,
um die gegenseitigen Handels- und
Investitionsströme zu intensivieren
und gemeinsame technologische
Projekte zu entwickeln. Darüber hi-
naus hat Italien beschlossen, eine
aktive Rolle bei der «Asian Infra-
structure Investment Bank» zu über-
nehmen. Vereinfacht gesagt, hat Ita-
lien damit entschieden, seine eige-
nen Handels- und Finanzbeziehun-
gen zu China einzugehen und die
Möglichkeit zu ignorieren, zusam-
men mit seinen EU-Partnern eine ge-
meinsame Herangehensweise zu
entwickeln.
Was hatte diese Entscheidung ausge-
löst? Die nicht so glaubwürdigen po-
litischen Entscheidungsträger sind
bestrebt, starke institutionelle Fi-
nanzinvestoren zu finden, die bereit
sind, die immer umfangreichere
Staatsverschuldung Italiens und
möglicherweise die Entwicklung
neuer Infrastrukturen zu finanzie-
ren. (Genua und Triest wollen chine-
sische Anlagen.) Sie versuchen zu-
dem, neue Geschäftsmöglichkeiten
anzuziehen, um das stagnierende
Unternehmertum des Landes zu be-
leben und eine anhaltende Rezessi-
on zu vermeiden.
Den italienischen Politikern ist zu-
dem klar, dass Deutschland und
Frankreich die künftige Gestaltung
der EU-Handelsbeziehungen mit der
Welt bestimmen werden. Doch die
Interessen Italiens stimmen nicht
unbedingt mit denen der beiden
grössten EU-Mitglieder überein.
Aus Sicht Pekings ist Italien ein mög-
liches Sprungbrett für die Entwick-
lung der chinesischen Produktion
im EU-Raum. Frankreich und
Deutschland neigen derzeit eher da-
zu, ihre eigenen technologischen
Vorreiter-Unternehmen zu fördern
und die Chinesen vom Eintritt in
den europäischen Technologie-
markt abzuhalten, insbesondere in
der Fertigung. Der Weg über Italien
wird als Versuch betrachtet, derarti-
ge Barrieren zu umgehen.
Italien braucht Hilfe von aussen, und
im Moment kann eine solche Hilfe
nur aus China kommen. Für die Chi-
nesen sind der italienische Schatz-
wechsel und seine angeschlagenen
Unternehmen wie Alitalia viel wert-
voller, als die Marktpreise vermuten
lassen (aber dennoch weniger Wert,
als die italienischen Politiker vermu-
ten). Vor diesem Hintergrund muss
Italien nach vorne preschen, bevor
die EU ihre eigenen Strategien ge-
genüber Peking entwickelt.
Was hält die Zukunft bereit? Geopoli-
tische Manöver sind eine Mischung
aus Macht, Glaubwürdigkeit und po-
litischer List. Unbestritten, den jetzi-
gen italienischen Regierungschefs
fehlt Kultur und Listigkeit, um mit
den wichtigsten Akteuren der Welt-
bühne zu interagieren. Es ist auch
nicht zu leugnen, dass ihre Unzu-
länglichkeit die Glaubwürdigkeit Ita-
liens gefährdet. Die entscheidende
Frage lautet daher, ob die EU eine ge-
meinsame Politik gegenüber China
verfolgen wird und ob sie unsichere
Provokationen ignorieren kann. Itali-
en macht zwar derzeit Schlagzeilen,
aber das Land ist keine Ausnahme:
2016 liess Griechenland ebenfalls die
Chinesen herein. Andere könnten in
Zukunft folgen, vor allem, wenn sich
die EU für deren Bedürfnisse als
nicht geeignet erweist.
Geopolitische Manöver
sind eine Mischung aus
Macht, Glaubwürdigkeit
und politischer List.
Es gibt zwei verschiedene Möglich-
keiten. In einem Szenario würden
die EU-Behörden darauf bestehen,
eine Regulierung in Betracht zu zie-
hen, die die nationalen Vorreiter-Un-
ternehmen als Schlüssel für die künf-
tige wirtschaftliche Entwicklung
Westeuropas und als Hauptgrund für
eine kontinentale Industriepolitik
ausweist. Dies würde zu Subventio-
nen und zur Abschottung gegen aus-
ländische Wettbewerber führen – so-
wie zu Schwierigkeiten bei der Grün-
dung von Unternehmen, die gross
genug sind, um die hohen Kosten ei-
ner langfristigen technologischen
Entwicklung zu tragen.
Das wäre also eine etwas riskante
Entwicklungsstrategie. Ein bürokra-
tisiertes und stark reguliertes Euro-
pa mag die Amerikaner erfreuen,
insbesondere wenn Brüssel der aus-
senpolitischen Führung Washing-
tons folgt. In einem solchen Kontext
dürfte Europa jedoch kaum zur Hei-
mat von bahnbrechenden Innovatio-
nen und siegreichen Wettbewerbern
werden. China könnte zwar in
Schach gehalten werden, aber die
besten Unternehmen Europas wür-
den schliesslich wegziehen.
In diesem Rahmen scheint Italiens
Entscheidung nicht hilfreich zu sein.
Sie ist jedoch realistisch. Wenn den
europäischen Volkswirtschaften ir-
gendwann einmal der Schwung aus-
geht, wird sich auch Brüssel nach ir-
gendeiner Art von wirtschaftlicher
Unterstützung umsehen müssen. Ita-
lien macht kein Geheimnis daraus,
dass jede Hilfe, unabhängig von ihrer
Herkunft, willkommen ist. Eine frü-
he und privilegierte chinesische Qua-
si-Kolonie zu sein, könnte einige Vor-
teile mit sich bringen. Dann käme es
zu weiteren Spannungen, aber Ber-
lin, Paris (oder Washington) könnten
dagegen nur wenig unternehmen.
Ein zweites – und unwahrscheinli-
cheres – Szenario würde eintreten,
falls sich die Europäer dazu ent-
schliessen würden, den Kurs zu än-
dern. Wenn sie also anerkennen,
dass Peking zum Spitzenreiter ge-
worden ist und sie sich bemühen
würden, durch eine Liberalisierung
der Handelsströme aufzuholen und
auf eine Industriepolitik zu verzich-
ten (einschliesslich kartellrechtli-
cher Regelungen). In diesem Szena-
rio würde jedes Land eigene Mög-
lichkeiten für eine intensivere Zu-
sammenarbeit ausloten. Ein isolier-
ter Umgang mit den Chinesen ist
wahrscheinlich nicht die beste Stra-
tegie, in der Tat wäre ein einheitli-
cher EU-Ansatz vorzuziehen.
Doch momentan scheinen die EU-
Behörden nicht bereit zu sein, sich
auf eine Welt einzulassen, in der die
Chinesen die Zukunft gestalten.
Brüssel scheint diese Welt gar nicht
vollständig zu verstehen, geschwei-
ge denn, dass es das Wissen besässe,
deren Vorteile auszunutzen. Falls
Europa doch noch halten könnte,
was es verspricht, hätten die Italie-
ner schliesslich keine gewagten und
(teilweise) neuen Verpflichtungen
eingehen müssen.
Italien braucht Hilfe von aussen, und im Moment kann
eine solche Hilfe nur aus China kommen, schreibt der
GIS-Experte Enrico Colombatto in seiner Analyse.
Über den GIS-Experten
Ökonomieprofessor
an der Uni Turin
Enrico Colombatto (Foto) hält einen
MSc in Economics (London School of
Economics, 1978) sowie einen PhD in
Economics (London School of Econo-
mics, 1983) und ist Professor für Öko-
nomie an der Universität Turin in Italien.
Lehrschwerpunkte: Grundlagen des po-
litischen Entscheidungsprozesses,
Wachstums- und Entwicklungstheorie
und Internationale Wirtschaft.
Das «Volksblatt» gibt Gastautoren Raum,
ihre Meinung zu äussern. Diese muss nicht
mit jener der Redaktion übereinstimmen.
Copyright: Geopolitical Intelligence
Services AG, GIS, Vaduz. 2019.
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