Volltext: Liechtensteiner Volksblatt (2013)

  Hintergrund | 21 
MITTWOCH 
30. JANUAR 2013 
(Foto: VMH) 
VON ALFRED GUSENBAUER * 
Pünktlich 
zum Jahresende er- 
reichen uns auch heuer wie- 
der zahlreiche imposante 
Statistiken und Trendprog- 
nosen: So soll etwa China bereits 
2016 die USA als grösste Volkswirt- 
schaft der Welt ablösen und Indien 
2040 mit 1,6 
Milliarden Ein- 
wohnern das 
dann schon stag- 
nierende China 
längst an Bevöl- 
kerungsreichtum übertroff en ha- 
ben. Weniger beachtet, aber meines 
Erachtens deutlich spektakulärer: 
2020 sollen die USA zum Energie- 
exporteur und 2035 sogar ener- 
gieautark werden. Diese Prognose 
ist jedoch nicht einer Revolution 
erneuerbarer Energie geschuldet, 
sondern vielmehr den gigantischen 
Schiefergasvorkommen in den 
USA sowie den neu entdeckten Öl- 
vorkommen von Dakota bis zum Golf 
von Mexiko. 
Allen Widerständen von Umwelt- 
schützern zum Trotz werden diese 
Vorkommen leichter zu nutzen sein 
als in Europa, da sie sich grössten- 
teils in nicht oder nur dünn besiedel- 
ten Gebieten befinden. Der Abbau 
von Schiefergas kann dadurch zu so 
günstigen ökonomischen Bedingun- 
gen erfolgen, dass selbst der theore- 
tische Export von amerikanischem 
Gas nach Europa Preise nach sich 
ziehen würde, die 30 Prozent unter 
den derzeitigen Gazprom-Lieferprei- 
sen lägen. Die USA werden deshalb 
in absehbarer Zeit erneut über billige 
Energie verfügen (billiger als in Eu- 
ropa, bedeutend billiger als in Chi- 
na). Das stellt die überzeugendste 
Einladung an energieintensive In- 
dustrieproduktionen dar, von Stahl 
über Glas, Chemie bis hin zu Phar- 
ma, sich in den USA niederzulassen. 
Denn die Energiekosten werden in 
diesen Produktionssparten schon 
heute als wesentlicher eingestuft 
denn die Arbeitskosten. Ob man es 
gutheisst oder nicht: Auf der Ebene 
von Löhnen und Gehältern ist Det- 
roit inzwischen mit Shanghai wett- 
bewerbsfähig. 
Reindustrialisierung zu erwarten 
Zu diesen beiden Standortfaktoren 
kommen die durchaus wirtschafts- 
freundlichen Regularien in den USA, 
eine verlässliche Rechtsstaatlichkeit 
und politische Stabilität. Wen wun- 
dert es da noch, dass die ersten ame- 
rikanischen Konzerne die Rückwan- 
derung von China in die USA antre- 
ten? Weitere werden folgen. Wir 
werden daher ein wahrscheinlich 
mehrere Jahrzehnte dauerndes Pa- 
radoxon erleben: Mitten in der sich 
entfaltenden Dienstleistungsökono- 
mie des 21. Jahr- 
hunderts kommt 
es zu einer Rein- 
dustrialisierung 
Amerikas. Die- 
sen Mehrwert 
werden die USA auch brauchen, um 
hartnäckige Probleme wie das ineffi- 
ziente Gesundheitssystem, die 
schwache Grundschulausbildung, 
die Kriminalitätsgefährdung junger 
Männer und die schreiende soziale 
Ungleichheit langfristig zu lösen. 
Sollte das zumindest ansatzweise ge- 
lingen, würde der Standort natür- 
lich eine zusätzliche Aufwertung er- 
fahren. 
Schiefergas und Öl als neue Chance 
Michael Porter und Jan Rivkin von 
der Harvard Business School haben 
jüngst einen 8-Punkte-Plan veröffent- 
licht, der allen politischen Zwistig- 
keiten zur Überwindung des «Fiscal 
Cliff» zum Trotz, sozusagen «hinter 
den Kulissen», einen breiten Konsens 
zwischen Demokraten und Republi- 
kanern formuliert. So soll die «Schie- 
fergas und Öl»-Chance in eine breite- 
re Strategie zur Stärkung der ameri- 
kanischen Wettbewerbsfähigkeit ein- 
gebettet werden. Die Vorschläge um- 
fassen Vereinfachungen der Unter- 
nehmenssteuer, handelspolitische 
Aktivitäten vor allem in Bezug auf 
China und Einwanderungserleichte- 
rungen für hochqualifizierte Absol- 
venten amerika- 
nischer Universi- 
täten. Sie fordern 
ausserdem intel- 
ligentere Regu- 
lierungen auf Ba- 
sis von Kosten- 
Nutzen-Analysen, ein mehrjähriges 
Infrastrukturprogramm, den um- 
weltschonenden Abbau von Boden- 
schätzen sowie einen nachhaltigen 
Bundeshaushalt – basierend auf Steu- 
ererhöhungen und Ausgabenkürzun- 
gen (nachlesbar etwa im Economist, 
«The World in 2013»). Derartige Mass- 
nahmen könnten nach Meinung der 
Harvardianer in den nächsten zwei 
bis drei Jahren umgesetzt werden. 
So erhielte Präsident Obama die 
Chance, ähnlich wie vor ihm Bill 
Clinton, die USA erneut zur Lokomo- 
tive der Weltwirtschaft zu machen 
und neuen Optimismus in den USA 
zu verbreiten. Und so würde sich 
auch der Reichtumsabstand zwi- 
schen Europa und den USA weiter 
vergrössern. Das war übrigens die 
vergangenen 30 Jahre nicht anders. 
Allein zwischen 1980 und 2005 hat 
sich die amerikanische Volkswirt- 
schaft um den Faktor 4,45 vergrös- 
sert – ein Wert, den keine grosse 
europäische Volkswirtschaft er- 
reicht. Beim Bruttosozialprodukt 
pro Kopf nach Kaufkraftparitäten 
weisen in Europa nur Norwegen und 
Luxemburg im Jahr 2011 einen höhe- 
ren Wert aus als die USA. 
Obwohl ein signifikanter Teil des 
amerikanischen Reichtums in den 
letzten Jahrzehnten in das Wettrüs- 
ten mit dem Kommunismus und da- 
nach in Kriege von Irak bis Afghanis- 
tan geflossen ist, liegen beim Hu- 
man Development Index (HDI – eine 
Bewertungsgrösse des Entwick- 
lungsprogramms der Vereinten Nati- 
onen, die nicht nur Reichtum, son- 
dern auch Lebenserwartung, Bil- 
dung etc. misst) überhaupt nur Nor- 
wegen und Australien vor den USA. 
Und die Bevölkerung der USA wächst 
stetig, sowohl durch Geburtenrate 
(an die 2,09 Prozent kommt kein 
grosses europäisches Land heran) 
als auch Zuwanderung. 
Wachstum und Stärke der USA 
Während also Europas Bevölkerung 
spätestens 2040 stagniert oder 
schrumpft (mit Ausnahme Grossbri- 
tanniens, das dann ähnlich wie 
Deutschland um die 75 Millionen 
Einwohner haben wird), werden die 
USA bis dahin 
von derzeit 314 
auf 430 Millio- 
nen Einwohner 
gewachsen sein, 
ohne dabei 
räumlich ähn- 
lich beengt zu sein wie China. Dazu 
kommt, dass amerikanische Univer- 
sitäten nach wie vor mit die besten 
Köpfe der Welt versammeln und die 
USA insgesamt über die grösste Mas- 
sierung wissenschaftlich-techni- 
scher Intelligenz verfügen. Wo sonst 
erwarten wir beispielsweise ent- 
scheidende Durchbrüche in der 
Krebsforschung, wenn nicht in den 
USA? Die klassischen Vorteile der US- 
Wirtschaft wie Flexibilität, Erneue- 
rungsfähigkeit, Mobilität, internatio- 
nale Regulierungsstärke und die zen- 
trale Stellung des Dollar in der Welt- 
wirtschaft dürfen als bekannt vor- 
ausgesetzt werden und seien damit 
nur am Rande erwähnt. 
Dieses Wiedererstarken der ameri- 
kanischen Wirtschaft, basierend auf 
Energieautarkie, Reindustrialisie- 
rung und einem gestärkten Präsi- 
denten, bleibt auch nicht ohne welt- 
politische Konsequenzen. So kann 
der angesehene Kolumnist Fareed 
Zakaria bereits ein Ende des Kriegs 
gegen den Terror fordern, da alle 
wesentlichen Köpfe von al Kaida 
ausgeschaltet seien und dieser Krieg 
als gewonnen gelten könne. Gleich- 
zeitig würde kein Land ewig reich 
bleiben, wenn es dauerhaft Krieg 
führte. Nicht zuletzt aus dieser Ein- 
sicht heraus fällt die militärische In- 
terventionsneigung von Präsident 
Barack Obama 
deutlich geringer 
aus als die seines 
Vorgängers Geor- 
ge Bush. So sind 
die USA beispiels- 
weise erst nach 
langem Zögern den Europäern bei 
der Libyen-Intervention gefolgt. 
Sorge über Muslimbruderschaft 
Vor diesem Hintergrund halten sich 
übrigens heute noch die Glücksge- 
fühle in Washington über die Aus- 
wirkungen des «Arab Spring» in 
überschaubaren Grenzen. Wurde 
anfangs der Umbruch im arabischen 
Raum welthistorisch noch mit dem 
Fall der Berliner Mauer verglichen, 
macht sich inzwischen nachhaltige 
Sorge über den politischen Aufstieg 
der Muslimbrüderschaft breit. Die 
USA werden und dürfen Israel nie 
fallen lassen, aber das bilaterale Ver- 
hältnis Netanyahu–Obama hat mitt- 
lerweile einen neuen Tiefpunkt er- 
reicht. So gesehen darf man sich kei- 
ne grossen amerikanischen Nahost- 
friedensinitiativen erwarten. Eher 
tritt dort die internationale Abstim- 
mung mit Russland und China und – 
soweit vorhanden – Europa an die 
Stelle der einstigen Supermachtpoli- 
tik. Dies zeigt sich bereits bei Syrien 
und dem Iran, wenn das State De- 
partment maximal auf robuste Dip- 
lomatie setzt. 
Diese Veränderung im amerikani- 
schen aussenpolitischen Establish- 
ment machte erst kürzlich James Ba- 
ker, Aussenminister, Finanzminis- 
ter und Stabschef unter Ronald Re- 
agan and George W. Bush deutlich, 
als er Obamas Nahostpolitik aus- 
drücklich unterstützte und eine Sy- 
rien-Intervention als den schwers- 
ten Fehler bezeichnete, den man 
machen könne. 
Keine Lorbeeren in Europa 
Die – aus amerikanischer Sicht – letz- 
te gute Nachricht aus Europa war 
wohl 1989 der Fall der Berliner Mau- 
er und ist somit lange her. Die mit 
der Euro-Einführung verbundene 
Hoffnung auf eine auch politisch 
stärkere Einigung Europas hat sich 
unser Kontinent bisher nicht erfül- 
len können. Wirtschaftlich wird Eu- 
ropa deshalb von den USA als Pati- 
ent mit Ansteckungsgefahr, politisch 
als zerstritten aber bestenfalls unge- 
fährlich – und diplomatisch als Jahr- 
markt der nationalen Eitelkeiten ge- 
sehen. Kurz: Hier 
gibt es keine Lor- 
beeren zu holen. 
Europa und der 
Nahe Osten sind 
auf der amerika- 
nischen Priori- 
tätsskala eindeutig nach unten ge- 
rutscht, der pazifische und der asia- 
tische Raum, allen voran China, sind 
im Ranking nach oben geklettert. 
Die künftige wirtschaftliche und po- 
litische Herausforderung wird mit 
Recht dort gesehen. Und so sind die 
Themen, die aktuell in Thinktanks 
und Universitäten gehandelt werden, 
die nordkoreanischen Raketenstarts, 
die Spannungen zwischen Japan und 
China, das Konfliktpotential im Süd- 
chinesischen Meer und die Demokra- 
tisierungschance in Burma. 
Wir können unschwer feststellen: 
Europa bleibt mit sich selbst be- 
schäftigt. Russland versucht krampf- 
haft, seine Hegemonie zumindest in 
Teilen der ehemaligen Sowjetunion 
zu retten. Die Nachrichten aus Afri- 
ka und Lateinamerika werden bes- 
ser. Die Hauptachse der Weltpolitik 
verlagert sich vom Atlantik in den 
Pazifik. Und Amerika ist zurück – 
dabei war es nie weg. 
*  Alfred Gusenbauer war von 2007 bis 2008 
österreichischer Bundeskanzler. 
Copyright: Project Syndicate, 2013. 
www.project-syndicate.org 
USA: Comeback-Kid der Weltwirtschaft 
Der österreichische Ex-Bundeskanzler Alfred Gusenbauer erwartet, dass die USA durch die Kombination billiger Energie mit günstigen 
Rahmenbedingungen zu neuer wirtschaftlicher Stärke finden werden. Das wird auch weltpolitische Konsequenzen haben, ist er überzeugt. 
«Die USA werden in ab- 
sehbarer Zeit erneut über 
billige Energie verfügen.» 
«Europa und der Nahe 
Osten sind auf der ameri- 
kanischen Prioritätenskala 
nach unten gerutscht.» 
«Das Wiedererstarken der 
amerikanischen Wirtschaft 
bleibt nicht ohne weltpoli- 
tische Konsequenzen.»
	        

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.