Volltext: Liechtensteiner Volksblatt (2013)

  Hintergrund | 9 
DONNERSTAG 
11. JULI 2013 
(Foto: RM) 
VON ÁLVARO DE VASCONCELOS * 
Der 
Militärputsch, mit dem 
Ägyptens erster demokra- 
tisch gewählter Präsident 
gestürzt wurde und der 
überall im Land zur Verhaftung von 
Führern der Muslimbruderschaft 
führte, birgt eine enorme Gefahr 
nicht nur für den demokratischen 
Wandel in Ägypten, sondern auch 
für die demokratischen Hoff nungen 
der gesamten arabischen Welt. 
Die Tatsache, dass der Putsch mit 
massiver öffentlicher Unterstützung 
erfolgte, ist ein Zeichen für die enor- 
men Schwierigkeiten, vor denen die 
Muslimbruderschaft nach ihrer ers- 
ten Regierungsübernahme stand. 
Präsident Mohamed Mursis Regie- 
rung tat sich schwer, die wirtschaftli- 
chen und sozialen Krisen im Lande, 
die sie geerbt hatte, zu bewältigen, 
und die öffentlichen Erwartungen im 
Gefolge der Revolution von 2011, de- 
ren Protagonisten nicht nur Freiheit, 
sondern auch wirtschaftliche Ent- 
wicklung und soziale Gerechtigkeit 
anstrebten, waren enorm. 
Fehler der Regierung Mursis 
Natürlich war die Muslimbruder- 
schaft auch ein Opfer ihrer eigenen 
Fehler, insbesondere des Versäum- 
nisses Mursis und seiner Regierung, 
auf die säkulare Opposition zuzuge- 
hen, von der Teile zur Wahl Mursis 
beigetragen hatten. Die Regierung 
Mursi schien unfähig, zu verstehen, 
dass ein knapper Wahlsieg nicht aus- 
reicht – schon gar nicht heute. 
Tatsächlich spiegelt die Breite der 
Opposition gegen Mursi eine bedeu- 
tende globale Tendenz hin zu einem 
Machtgewinn der gebildeten, gut 
vernetzten Mittelschicht wider, de- 
ren Mitglieder zum Misstrauen ge- 
genüber den politischen Parteien 
neigen und eine direktere politische 
Teilhabe verlangen. In diesem Sinne 
unterscheiden sich Ägyptens 
Schwierigkeiten nur von ihrem Um- 
fang, nicht jedoch substanziell von 
jenen, denen sich die Regierungen 
der Türkei, Brasiliens und sogar in 
Europa ausgesetzt sehen. 
Mursis Muslimbruderschaft domi- 
nierte die Regierung von ihren ersten 
Tagen an der Macht an. Doch sah sie 
sich zugleich dem Widerstand einer 
Vielzahl anderer, deutlich weniger 
demokratisch eingestellter Kräfte 
ausgesetzt, darunter Überbleibseln 
von Hosni Mubaraks Regime, die in 
den offiziellen Einrichtungen weiter 
ihren Einfluss geltend machen. So 
löste die Justiz etwa das erste gewähl- 
te Parlament auf, und der Innenmi- 
nister weigerte sich, die Zentrale der 
Bruderschaft vor wiederholten An- 
schlägen zu schützen. Zudem verteu- 
felten einige säkulare Intellektuelle 
die Bruderschaft. 
Wie ihre algeri- 
schen Pendants – 
die 1992 der Un- 
terdrückung ei- 
nes islamisti- 
schen Wahlsie- 
ges durch die al- 
gerische Armee 
zustimmten, was 
zu jahrelangen brutalen Kämpfen mit 
vielleicht einer halben Million Toten 
führte – hatten viele Ägypter kein 
Problem mit der Unterdrückung der 
Islamisten. Auch sahen sich Mursi 
und die Muslimbruderschaft der Kon- 
kurrenz durch die von den Saudis un- 
terstützten Salafisten ausgesetzt. Tat- 
sächlich traten diese ultrakonservati- 
ven Islamisten am Abend des Put- 
sches mit der Militärführung und 
dem säkularen politischen Führer 
Mohamed el-Baradei auf, um Mursis 
Sturz bekannt zu geben. 
Die Aussichten auf einen demokrati- 
schen Wandel in Ägypten sind zu- 
nehmend schwieriger einzuschät- 
zen, aber eins ist klar: Man kann und 
darf dem Militär nicht trauen. Wäh- 
rend der Phase nach dem Sturz Mu- 
baraks, als die Armee die uneinge- 
schränkte Macht ausübte, wurden 
12 000 Zivilisten vor Militärgerichten 
angeklagt, Frauen (vor allem solche, 
die gegen das Militär protestierten) 
zwangsweisen Jungfräulichkeitstests 
unterzogen, Demonstranten getötet 
und ungestraft unzählige Menschen- 
rechtsverletzungen begangen. 
Natürlich ist es möglich, dass Solda- 
ten den Übergang zur Demokratie si- 
chern, so wie sie das vor vier Jahr- 
zehnten in meinem Heimatland Por- 
tugal nach dem Sturz der Salazar/ 
Caetano-Diktatur taten. Doch die Er- 
fahrungen mit militärgeleiteten Re- 
formen anderswo sind schlecht: Man 
kann verkünden, dass ein Putsch aus 
Gründen der Demokratie erfolgte, 
doch damit ist der Prozess des Wan- 
dels erst einmal 
gestoppt. Zudem 
scheint in diesem 
Fall die Armee viel 
mehr daran inter- 
essiert, ihre enor- 
men wirtschaftli- 
chen Interessen 
zu schützen, als 
die Vorteile einer 
zivilen Regierung, die auf die Bedürf- 
nisse ihrer Bürger reagiert, zu ge- 
währleisten. 
Das Ziel einer pluralistischen 
Gesellschaft ist zu unterstützen 
Noch immer vertrauen sollte man 
den jungen Ägyptern und ihren For- 
derungen nach Freiheit und Demo- 
kratie – Forderungen, die die Bewe- 
gung, die Mubarak stürzte, mit je- 
nen Demonstrationen verknüpfen, 
die zur Beseitigung Mursis führten. 
Doch das vorherrschende Ziel sollte 
darin bestehen, die Schaffung einer 
pluralistischen ägyptischen Gesell- 
schaft zu unterstützen, die die Rech- 
te aller auf politische Teilhabe und 
freie und gleiche Wahlen verteidigt. 
Dies erfordert heute Widerstand ge- 
gen jede Mubarak-artige Unterdrü- 
ckung der Muslimbruderschaft. 
Auswirkungen des Putsches 
Unmittelbar im Anschluss an den 
Putsch machte sich die Europäische 
Union diesbezüglich eine ambiva- 
lente Position zu Eigen. Auch dies 
erinnert an Algerien 1992, als die 
meisten europäischen Regierungen 
die Annullierung des islamistischen 
Wahlsieges unterstützten. (Genauso 
weigerte sich die EU, den Wahlsieg 
der Hamas in Gaza im Jah- 
re 2006 anzuerkennen.) 
Die anhaltende Furcht 
vor dem politischen Is- 
lam in grossen Teilen des 
Westens erklärt die Un- 
terstützung diktatori- 
scher Regime in der Ver- 
gangenheit. Heute sollten 
die EU und die USA die Be- 
freiung aller Mitglieder 
der Muslimbruderschaft, ein- 
schliesslich von Mursi, und die Ein- 
beziehung der Bruderschaft in jede 
politische Lösung fordern. 
Sorgen sollte sich die internationale 
Gemeinschaft zudem über die regio- 
nalen Auswirkungen des Putsches. 
Die zynische Erklärung des syri- 
schen Präsidenten Bashar al-Assad, 
er unterstütze den Putsch, ist ein 
Zeichen, dass einige den derzeitigen 
Kampf in der arabischen Welt in ei- 
nen blutrünstigen Wettstreit zwi- 
schen Islamisten und Säkularisten 
verwandeln wollen. Langfristig wür- 
de jede Verfolgung der Bruderschaft 
dazu führen, dass ihre Mitglieder 
und Anhänger – die bereits jetzt 
schwer von der Demokratie ent- 
täuscht sind – Wahlen komplett ab- 
lehnen. Dies könnte sehr negative 
Auswirkungen auf islamistische Be- 
wegungen andernorts haben. Viele 
sehen jetzt jene Extremisten bestä- 
tigt, die die Bruderschaft und ande- 
re islamistische Parteien dafür kriti- 
sierten, dass sie einen demokrati- 
schen Weg zur Macht verfolgten, 
und es ist möglich, dass nun eine 
neue Welle der Gewalt in der Region 
beginnt. 
Noch besteht Hoffnung, dass Ägyp- 
ten dem Schicksal Algeriens 1992 
(oder Chiles 1973) entgeht. Doch da- 
zu ist es zwingend erforderlich, dass 
jetzt die Grundrechte der Mitglieder 
der Muslimbruderschaft geschützt 
werden. US-Präsident Barack Oba- 
ma, der seine tiefe Besorgnis über 
den Sturz Mursis zum Aus- 
druck gebracht hat, ist viel- 
leicht der einzige Staats- 
mann, der imstande ist, in 
dieser Situation zu vermit- 
teln und auf eine Konsens- 
lösung hinzuarbeiten, die 
einen Bürgerkrieg verhin- 
dert. Doch muss er hierzu 
alle ihm zur Verfügung ste- 
henden Hebel nutzen, ein- 
schliesslich der angedrohten Redu- 
zierung der enormen Militärhilfe 
der USA für die ägyptischen Streit- 
kräfte. Er kann zudem auf jene Ver- 
trauensreserve zurückgreifen, die er 
durch sein Zugehen auf die Bruder- 
schaft während Mursis Präsident- 
schaft erreicht hat. Aber wird Oba- 
ma die Initiative ergreifen? Seine Re- 
de in Kairo im Jahre 2009 – die einen 
«Neubeginn» in der Region forderte 
– hat in der arabischen Welt viele 
Menschen inspiriert. Nun ist es Zeit, 
den Worten Taten folgen zu lassen. 
*  Álvaro de Vasconcelos ist Projektdirektor 
der Arab Reform Initiative, einem Konsortium 
von 16 Denkfabriken in der arabischen Welt 
und im Westen, und Koordinator der Global 
Governance Group. Er ist ehemaliger Direktor 
des European Union Institute for Security 
Studies (Paris) und des Institute of Strategic 
and International Studies in Lissabon. 
Aus dem Englischen von Jan Doolan. 
Copyright: Project Syndicate, 2013. 
www.project-syndicate.org 
Kann Ägypten das Schicksal 
Algeriens vermeiden? 
Die Aussichten auf einen demokratischen Wandel in Ägypten sind zunehmend schwieriger einzuschätzen, aber eins ist klar: 
Man kann und darf dem Militär nicht trauen, schreibt Álvaro de Vasconcelos. Er mahnt: Noch immer vertrauen sollte man jedoch den 
jungen Ägyptern und ihren Forderungen nach Freiheit und Demokratie. 
«Man kann verkünden, 
dass ein Putsch aus 
Gründen der Demokratie 
erfolgte, doch damit ist 
der Prozess des Wandels 
erst einmal gestoppt.» 
Álvaro de 
Vasconcelos. 
(Foto: ZVG)
	        

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