Hintergrund | 11
SAMSTAG
22. JUNI 2013
(Foto: SSI)
VON PETER SINGER *
Ist
es immer falsch, ein unschul-
diges menschliches Leben zu
beenden? Viele philosophische
Verfechter der römisch-katho-
lischen Tradition des Naturrechts
bringen vor, dass es keine Ausnah-
men von diesem
Verbot gibt; zu-
mindest, wenn es
darum geht, das
Leben vorsätz-
lich und direkt zu
beenden und es
nicht als Nebenfolge eines anderen
Tuns dazu kommt. (Diese Moral-
theoretiker nehmen auch feindliche
Kombattanten von der Defi nition
«unschuldig» aus, solange der Krieg,
der geführt wird, gerecht ist.)
Wird diese Auffassung – wie es in
der katholische Lehre üblich ist – mit
dem Anspruch verbunden, dass alle
Nachkommen menschlicher Eltern
vom Augenblick der Empfängnis an
lebende menschliche Wesen sind,
folgt daraus, dass der Abbruch einer
Schwangerschaft in keinem Fall zu-
lässig ist. Doch der Fall einer 22-jäh-
rigen Frau aus El Salvador, die in
den Medien «Beatriz» genannt wird,
macht es ausgesprochen schwierig,
diese Auffassung in ihrer Absolut-
heit zu vertreten.
Aufsehenerregender Fall
Beatriz ist Mutter eines kleinen Soh-
nes und leidet an der Autoim-
munkrankheit Lupus und anderen
Komplikationen. Ihre erste Schwan-
gerschaft ist sehr schwierig gewe-
sen. Dann wurde sie erneut schwan-
ger und ihre Ärzte sagten, je länger
die Schwangerschaft fortgesetzt
würde, desto grösser sei ihr Risiko,
daran zu sterben. Für die meisten
Frauen wäre das allein ein hinrei-
chender Grund, die Schwanger-
schaft zu beenden. Für Beatriz gab
es allerdings noch einen weiteren
wichtigen Grund für diesen Schritt:
Beim Fötus wurde Anenzephalie di-
agnostiziert, eine Fehlbildung, bei
der die Grosshirnrinde fehlt, der
Teil des Gehirns, der dem Bewusst-
sein zugeordnet
wird.
Fast alle Babys
mit diesem Lei-
den sterben kurz
nach der Geburt;
die wenigen, die
überleben sind nicht einmal fähig,
auf das Lächeln ihrer Mutter zu re-
agieren. In Ländern mit Pränataldia-
gnostik und liberalen Abtreibungs-
gesetzen ist Anenzephalie sehr sel-
ten geworden, weil sich fast alle
Frauen, die erfahren, dass der Fötus
diese Fehlbildung aufweist, zu ei-
nem Schwangerschaftsabbruch ent-
schliessen.
Chemotherapie verweigert
Während traditionell römisch-ka-
tholische Länder in Europa, wie Ita-
lien und Spanien, ihre Abtreibungs-
gesetze liberalisiert haben, ist La-
teinamerika dem Glauben treu ge-
blieben und hält an einigen der
striktesten gesetzlichen Verbote der
Welt fest. Im vergangenen Jahr wur-
de einem 16-jährigen krebskranken
Mädchen in der Dominikanischen
Republik über Wochen eine Chemo-
therapie verweigert, weil sie schwan-
ger war und die
Ärzte befürchte-
ten, dass die po-
tenziell lebens-
rettende Be-
handlung einen
Abort auslösen
könnte. Obwohl dem Mädchen spä-
ter erlaubt worden ist, mit der Be-
handlung zu beginnen, sind sowohl
das Mädchen als auch der Fötus ge-
storben. In El Salvador ist Abtrei-
bung ausnahmslos verboten. Im
April ersuchten Beatriz’ Ärzte die
Gerichte, ihnen den Abbruch der
Schwangerschaft aus medizinischen
Gründen zu gestatten, wurden je-
doch abgewiesen. Am 29. Mai wurde
Beatriz’ Antrag vom Obersten Ge-
richtshof abgelehnt.
Unverständliche Entscheidung
Für einen jeden, der sich über das
Wohlergehen des Menschen Gedan-
ken macht – oder auch das Gedeihen
des Menschen im Allgemeinen – er-
gibt ein solches Resultat keinen
Sinn. Mit der Abtreibung eines anen-
zephalen Fötus wird ein Leben be-
endet, das menschlich sein mag, in-
sofern als es sich um das Leben ei-
nes Angehörigen der Spezies Homo
sapiens handelt; es ist jedoch ein Le-
ben, in dem es keinerlei Wohlerge-
hen geben wird, denn das Kind
(wenn es lebt) wird nicht in der Lage
sein, sich an irgendetwas freuen zu
können. Beatriz einen Schwanger-
schaftsabbruch zu verbieten hinge-
gen, birgt das Risiko, dass eine junge
Frau stirbt, die unbedingt am Leben
bleiben will und vieles hat, wofür es
sich zu leben lohnt. Auch wäre ihr
einjähriger Sohn vom Verlust der
Mutter bedroht.
Nach der Entscheidung des Obersten
Gerichtshofes gab die Gesundheits-
ministerin von El Salvador, Maria
Rodriguez, be-
kannt, dass es
Beatriz gestattet
würde, einen
«vorzeitigen Kai-
serschnitt» vor-
nehmen zu las-
sen, bei dem es sich nicht um eine
Abreibung, sondern um eine «einge-
leitete Geburt» handle. Der Eingriff
wurde am 3. Juni durchgeführt; das
anenzephalische Neugeborene ist
fünf Stunden später gestorben.
Wenn das ein besseres Resultat als
eine frühzeitigere Beendigung der
Schwangerschaft gewesen sein soll,
fällt es schwer zu verstehen, für wen
es besser war. Für Beatriz, die wei-
ter auf der Intensivstation behandelt
wird und für die die langfristigen ge-
sundheitlichen Folgen der Schwan-
gerschaft noch nicht absehbar sind,
war es gewiss
nicht besser. Und
inwiefern hat der
anenzephalische
Fötus davon pro-
fitiert, einige Mo-
nate länger im
Uterus und anschliessend fünf Stun-
den ausserhalb zu leben?
Zwiespältige Moraltheorie
Ein Punkt, der in der Diskussion des
Falles Beatriz übersehen wird, ist,
dass die gleiche katholische Theorie
des Naturrechts, die darauf beharrt,
dass die Tötung eines unschuldigen
menschlichen Wesens immer falsch
ist, ebenso eine Grundlage für die Ar-
gumentation liefert, dass es nicht
falsch ist, einen anenzephalischen
Fötus zu töten. In unzähligen Texten
argumentieren katholische Philoso-
phen, Theologen und Bioethiker,
dass es immer falsch sei, unschuldige
menschliche Wesen zu töten, weil sie
– im Gegensatz zu nichtmenschlichen
Tieren – ein «rationales Wesen» ha-
ben. Die Verfechter dieser Argumen-
tation verwenden diesen Begriff, um
Geschöpfe einzuschliessen, die noch
nicht fähig sind, rational zu agieren,
es im Zuge ihrer normalen Entwick-
lung aber sein werden.
Die Verwendung des Begriffs «Ge-
schöpf mit einem rationalen Wesen»
ist sehr weit gefasst, vielleicht sogar
zu weit, wenn er auf normale Föten
bezogen wird. Um ihn auf einen Fö-
tus mit Anenzephalie anzuwenden,
ist ein weiterer und weitaus frag-
würdigerer Schritt notwendig.
Menschlichere Lösung möglich
So hat etwa Thomas von Aquin nicht
geglaubt, dass bei jedem Angehöri-
gen der Spezies Homo sapiens ein
rationales Wesen vorhanden ist. Er
war überzeugt, dass ein Mass an
Entwicklung not-
wendig ist, damit
das menschliche
Tier ein Geschöpf
mit rationalem
Wesen werden
kann. Im Fall ei-
nes anenzephalischen Fötus ist eine
solche Entwicklung nicht möglich.
Er kann kein rationales Wesen wer-
den. Aus diesem Grund hätten auch
diejenigen, die glauben, dass es im-
mer falsch ist, ein unschuldiges Ge-
schöpf mit einem rationalen Wesen
vorsätzlich zu töten, zulassen sollen,
dass Beatriz ihre Schwangerschaft
abbricht. Sie hätten sich zu einer
menschlichen Lösung entschliessen
sollen, die das Risiko eines tragi-
schen Endes einer Geschichte mini-
miert, die ohnehin schon traurig ge-
nug ist.
* Peter Singer ist Professor für Bioethik an der
Universität Princeton und Ehrenprofessor an
der Universität von Melbourne. Zu seinen Bü-
chern zählen «Praktische Ethik», «Leben und
Tod. Der Zusammenbruch der traditionellen
Ethik» und «Leben retten: Wie sich Armut ab-
schaff en lässt – und warum wir es nicht tun».
Aus dem Englischen von Sandra Pontow.
Copyright: Project Syndicate, 2013.
www.project-syndicate.org
Das unmoralische Resultat
einer Moraltheorie
Der Fall einer 22-jährigen Frau aus El Salvador zeigt, zu welchen tragischen Ergebnissen strikte Abtreibungsverbote führen können. Dabei bietet
die katholische Morallehre durchaus eine Möglichkeit, solche Konflikte menschlicher zu lösen, argumentiert der Philosoph Peter Singer.
«Lateinamerika hält an
einigen der striktesten
gesetzlichen Verbote
der Welt fest.»
«Es fällt schwer zu
verstehen, für wen der
vorzeitige Kaiserschnitt
besser gewesen sein soll.»
«Anhänger dieser Moral-
lehre hätten sich zu einer
menschlichen Lösung
entschliessen sollen.»