Hintergrund | 9
MONTAG
17. JUNI 2013
(Foto: SSI)
VON KISHORE MAHBUBANI *
Es
ist an der Zeit, das Undenk-
bare zu denken: Das Zeit-
alter der amerikanischen
Vorherrschaft auf interna-
tionaler Ebene könnte nun wohl zu
Ende gehen. Angesichts des Heran-
nahens dieses
Moments lautet
die wichtigste
Frage, wie gut
die Vereinigten
Staaten darauf
vorbereitet sind.
Asiens Aufstieg in den vergangenen
Jahrzehnten ist mehr als nur eine
Geschichte des raschen Wirtschafts-
wachstums. Vielmehr handelt es
sich um die Geschichte einer Region,
die eine Renaissance erlebt, im Zuge
derer sich die Menschen wieder öff-
nen und verbesserten Perspektiven
entgegensehen. Asiens Vormarsch
in Richtung seiner früheren zentra-
len Rolle in der Weltwirtschaft ver-
fügt über eine derartige Dynamik,
dass er praktisch unaufhaltsam er-
scheint. Obwohl der Übergang viel-
leicht nicht immer reibungslos ver-
läuft, bestehen keine Zweifel mehr,
dass sich am Horizont ein asiatisches
Jahrhundert abzeichnet und dass
sich die Chemie der Welt grundle-
gend verändern wird.
Vor Verantwortung gedrückt
Führende Persönlichkeiten der Welt
– ob politische Entscheidungsträger
oder Intellektuelle – tragen die Ver-
antwortung, ihre jeweiligen Gesell-
schaften auf diese bevorstehenden
globalen Veränderungen vorzube-
reiten. Doch zu viele amerikanische
Führungspersönlichkeiten drücken
sich vor dieser Verantwortung. Im
Rahmen des letztjährigen Weltwirt-
schaftsforums in Davos nahmen
zwei US-Senatoren, ein Abgeordne-
ter des Repräsentantenhauses und
ein stellvertretender nationaler Si-
cherheitsberater an einem Forum
über die Zukunft
der Macht Ameri-
kas teil (ich war
der Vorsitzende).
Als man die er-
wähnten Teilneh-
mer fragte, wie
sie die Zukunft der amerikanischen
Macht beurteilen, erklärten sie er-
wartungsgemäss, dass die USA das
mächtigste Land der Welt bleiben
würden. Als man sie jedoch mit der
Frage konfrontierte, ob Amerika
vorbereitet sei, die zweitgrösste
Volkswirtschaft zu werden, gaben
sie sich zugeknöpft.
Erwartungen der Wähler erfüllen
Ihre Reaktion war verständlich: al-
lein die Möglichkeit ins Auge zu fas-
sen, dass die USA «Nummer zwei»
werden könnten, entspricht für ei-
nen amerikanischen Politiker einem
karrieretechnischen Selbstmord.
Gewählte Vertreter müssen sich – in
unterschiedlichem
Ausmass – überall
anpassen, um die
Erwartungen jener
zu erfüllen, denen
sie ihr Amt zu ver-
danken haben. An-
dererseits haben Intellektuelle aber
eine spezielle Verpflichtung, das Un-
denkbare zu denken und das Unaus-
sprechliche auszusprechen. Man er-
wartet von ihnen, alle Möglichkei-
ten, auch unangenehme, in Betracht
zu ziehen und die Bevölkerung auf
künftige Entwicklungen vorzuberei-
ten. Die ehrliche Diskussion unbe-
liebter Ideen ist ein Hauptmerkmal
einer offenen Gesellschaft.
Schlechte Vorbereitung
Doch in den USA kommen viele In-
tellektuelle dieser Verpflichtung
nicht nach. Richard Haass, der Vor-
sitzende des Council on Foreign Re-
lations, behauptete jüngst, dass sich
die USA «bereits im zweiten Jahr-
zehnt eines weiteren amerikani-
schen Jahrhunderts befinden könn-
ten». Auch Clyde Prestowitz, Präsi-
dent des Economic Strategy Institu-
te, meint, dass sich «dieses Jahrhun-
dert letztendlich sehr wohl als ein
weiteres amerikanisches Jahrhun-
dert erweisen könnte». Selbstver-
ständlich ist es möglich, dass sich
diese Prognosen sehr wohl als kor-
rekt erweisen und wenn dem so ist,
wird der Rest der Welt davon profi-
tieren. Eine starke und dynamische
US-Wirtschaft, neu belebt durch bil-
liges Schiefergas und beschleunigte
Innovation, würde die gesamte Welt-
wirtschaft erneuern. Doch dafür
sind die Amerikaner ohnehin mehr
als gerüstet und
somit sind auch
keine Vorbereitun-
gen mehr nötig.
Wenn sich jedoch
der globale Schwer-
punkt nach Asien
verlagert, werden die Amerikaner
bedauerlich unvorbereitet dastehen.
Viele Amerikaner sind schockierend
ahnungslos hinsichtlich der Fort-
schritte, die der Rest der Welt, vor
allem Asien, gemacht hat.
Den Amerikanern muss eine simple
mathematische Wahrheit vermittelt
werden. Mit 3 Prozent der Weltbe-
völkerung können die USA nicht
mehr den Rest der Welt beherr-
schen, denn die Asiaten, die 60 Pro-
zent der Weltbevölkerung ausma-
chen, schneiden auch nicht mehr
unterdurchschnitt-
lich ab. Doch der
Glaube, wonach
Amerika das einzig
mächtige Land, das
einzige Leuchtfeu-
er in einer dunklen
und instabilen Welt sei, prägt auch
weiterhin die Weltsicht vieler Ameri-
kaner. Das Versagen der amerikani-
schen Intellektuellen, diese Annah-
men infrage zu stellen – und der
amerikanischen Bevölkerung damit
zu helfen, selbstgefällige, auf Unwis-
senheit beruhende Haltungen abzu-
legen – festigt eine Kultur des Einlul-
lens der Öffentlichkeit.
Aufstieg Asiens nicht bedrohlich
Doch obwohl die Amerikaner dazu
neigen, nur gute Nachrichten hören
zu wollen, ist der Aufstieg Asiens in
Wahrheit keine schlechte Nachricht.
Die USA sollten erkennen, dass es
den asiatischen Ländern nicht dar-
um geht, den Westen zu beherr-
schen, sondern ihm nachzueifern.
Man trachtet danach, eine starke
und dynamische Mittelschicht auf-
zubauen und jene Art von Frieden,
Stabilität und Wohlstand zu errei-
chen, die der Westen schon lange ge-
niesst. Die derzeit in Asien stattfin-
dende tiefe soziale und intellektuel-
le Transformation verspricht, den
Kontinent von wirtschaftlicher
Macht zu globaler Führerschaft zu
befördern. China, eine in vielerlei
Hinsicht geschlossene Gesellschaft,
ist durchaus weltoffen, wohingegen
die USA zwar eine offene Gesell-
schaft darstellen, aber in ihren Hal-
tungen verschlossen sind. Ange-
sichts der sprunghaften Ausweitung
der asiatischen Mit-
telschicht von etwa
500 Millionen Men-
schen heute auf
1,75 Milliarden bis
ins Jahr 2020, wer-
den die USA die
neuen Realitäten in der Weltwirt-
schaft nicht mehr sehr lange aus-
blenden können.
Dramatische Machtverschiebungen
Die Welt steht vor einer der drama-
tischsten Machtverschiebungen in
der Menschheitsgeschichte. Um auf
diesen Übergang vorbereitet zu
sein, müssen sich die Amerikaner
von tief sitzenden Vorstellungen
und überholten Annahmen verab-
schieden und ehemals undenkba-
ren Gedanken die Freiheit schen-
ken. Vor dieser Herausforderung
stehen die amerikanischen Intellek-
tuellen heute.
* Kishore Mahbubani ist Dekan der Lee Kuan
Yew School of Public Policy der Nationaluni-
versität Singapur sowie Autor von «The Great
Convergence: Asia, the West, and the Logic of
One World».
Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier.
Copyright: Project Syndicate, 2013.
www.project-syndicate.org
Amerikas Scheuklappen
Es ist zwar durchaus möglich, dass die USA trotz des Aufstiegs Asiens ihre Vormachtstellung verteidigen können. Auf die wahrscheinlichere Alternative,
bald die Nummer zwei zu sein, ist das Land aufgrund der Scheuklappen seiner Politiker und Intellektuellen jedoch schlecht vorbereitet.
«Asiens Aufstieg
ist mehr als nur eine
Geschichte des raschen
Wirtschaftswachstums.»
«Eine starke
US-Wirtschaft würde
die gesamte Weltwirt-
schaft erneuern.»
«Die Amerikaner
müssen sich von
überholten Annahmen verabschieden.»