Hintergrund | 11
MONTAG
27. MAI 2013
(Foto: SSI)
VON JOSEPH E. STIGLITZ *
Der
Oberste Gerichtshof der
USA hat vor Kurzem seine
Beratungen in einem Fall
aufgenommen, der ein
Schlaglicht auf einen zutiefst proble-
matischen Sachverhalt in Bezug auf
die Rechte an geistigem Eigentum
wirft. Das Gericht muss folgende
Frage beantworten: Sind mensch-
liche Gene – Ihre Gene – patentier-
bar? Anders ausgedrückt: Sollte
jemand anders das grundsätzliche
Eigentumsrecht an einem Test auf
eine Gensequenz haben, die bedeu-
tet, dass Sie mit mehr als 50-prozen-
tiger Wahrscheinlichkeit an Brust-
krebs erkranken
werden?
Für jene ausser-
halb der obskuren
Welt des Rechts
vom geistigen Ei-
gentum scheint die
Antwort offensichtlich: Nein. Ihre
Gene gehören Ihnen. Ein Unterneh-
men mag, allerhöchstens, das geisti-
ge Eigentum an seinem genetischen
Test innehaben; und weil die zur
Entwicklung dieses Tests durchge-
führten Forschungs- und Entwick-
lungsmassnahmen gegebenenfalls
eine Menge Geld gekostet haben,
darf das Unternehmen möglicher-
weise zu Recht eine Gebühr für die
Durchführung des Tests erheben.
Rechte rücksichtslos durchgesetzt
Doch ein Unternehmen mit Sitz im
US-Staat Utah, Myriad Genetics, be-
ansprucht mehr als das. Es macht
Rechte an allen Tests auf Ermittlung
der beiden entscheidenden mit
Brustkrebs verbundenen Gene gel-
tend – und hat diese Rechte rück-
sichtslos durchgesetzt, obwohl sein
Test qualitativ schlechter ist als ei-
ner, den die Universität Yale zu ei-
nem viel niedrigeren Preis anzubie-
ten bereit war. Die Folgen sind tra-
gisch: Gründliche, bezahlbare Un-
tersuchungen, die Hoch-Risiko-Pati-
enten ermitteln, retten Leben. Myri-
ad ist ein typisches Beispiel für ein
amerikanisches Unternehmen, das
Profit über alles andere stellt, auch
über das Recht der Menschen auf Le-
ben selbst.
Interessen abwägen
Dies ist ein besonders zugespitzter
Fall. Normalerweise sprechen Öko-
nomen über eine Interessenabwä-
gung: Schwächere geistige Eigen-
tumsrechte, so wird argumentiert,
würden Innovationsanreize unter-
graben. Die Ironie
hier ist, dass Myri-
ads Entdeckung
sowieso gemacht
worden wäre – auf-
grund öffentlich fi-
nanzierter inter-
nationaler Anstrengungen zur Ent-
zifferung des gesamten menschli-
chen Genoms, die eine einzigartige
Leistung der modernen Wissen-
schaft darstellten. Der soziale Nut-
zen von Myriads geringfügig frühe-
rer Entdeckung verblasst angesichts
der Kosten, die das hartherzige Ge-
winnstreben des Unternehmens ver-
ursacht hat.
Allgemeiner ausgedrückt: Es wird
immer deutlicher, dass das Patent-
system, so wie es gegenwärtig konzi-
piert ist, nicht nur unermessliche so-
ziale Kosten verursacht, sondern zu-
dem versäumt, für ein Maximum an
Innovation zu sorgen – wie Myriads
Genpatente belegen. Schliesslich hat
Myriad die zur Analyse der Gene
verwendeten Technologien gar nicht
selbst entwickelt. Hätte für diese
Technologien Patentschutz bestan-
den, hätte Myriad seine Entdeckun-
gen möglicherweise überhaupt nicht
gemacht. Und seine enge Kontrolle
der Nutzung seiner Patente behin-
dert die Entwicklung besserer und
präziserer Tests auf die fraglichen
Gene durch andere. Der springende
Punkt ist dabei leicht zu verstehen:
Alle Forschung beruht auf früherer
Forschung. Ein schlecht konzipier-
tes Patentsystem – wie das, das wir
gegenwärtig haben – kann wissen-
schaftliche Folgeuntersuchungen
hemmen.
Dies ist der Grund, warum wir Pa-
tente, die auf grundlegenden mathe-
matischen Erkenntnissen beruhen,
nicht zulassen. Und warum Studien
zeigen, dass Patente auf Gene neue
Erkenntnisse über Gene tatsächlich
reduzieren: Die wichtigste Voraus-
setzung, um neues Wissen hervorzu-
bringen, ist bestehendes Wissen,
und hierauf verstellen Patente den
Zugriff. Glücklicherweise ist die Mo-
tivation für die bedeutendsten Er-
kenntnisfortschritte nicht Profitstre-
ben, sondern das Streben nach Wis-
sen per se. Dies gilt für alle umwäl-
zenden Entdeckungen und Innovati-
onen – DNA, Transistoren, Laser, das
Internet usw.
Korruptionsgefahr durch Monopole
Eine separate Rechtssache in den
USA hat ein Licht auf eine der Haupt-
gefahren patentbedingter Monopol-
macht geworfen: Korruption. Wenn
die Preise die Produktionskosten
deutlich übersteigen, lassen sich
enorme Gewinne beispielsweise da-
durch erzielen,
dass man Apo-
theken, Kran-
kenhäuser oder
Ärzte zur Um-
stellung auf die
eigenen Produk-
te überredet. Die Staatsanwaltschaft
des Süddistrikts von New York hat
kürzlich dem Schweizer Pharmarie-
sen Novartis vorgeworfen, genau
dies zu tun, indem es Ärzten illega-
le Provisionen,
Honorare und
sonstige Vergü-
tungen zahlt – ob-
wohl er sich bei
einem Vergleich
vor drei Jahren in
einem ähnlichen Fall verpflichtet
hatte, genau dies nicht zu tun. Die
US-Verbraucherschutzorganisation
Public Citizen hat errechnet, dass
die Pharmaindustrie allein in den
USA aufgrund von Gerichtsurteilen
und finanziellen Vergleichen zwi-
schen den Pharmaherstellern und
den Regierungen des Bundes und
der Einzelstaaten Milliardenbeträge
gezahlt hat.
Trend geht in andere Richtung
Leider drängen die USA und andere
hoch entwickelte Länder weltweit
auf eine Verschärfung der Regelun-
gen zum Schutz geistigen Eigen-
tums. Derartige Regelungen würden
den Zugriff der armen Länder auf
das Wissen, was diese für ihre Ent-
wicklung brauchen, begrenzen –
und Hunderten von Millionen von
Menschen, die sich die Monopolprei-
se der Pharmaunternehmen nicht
leisten können, lebenswichtige Ge-
nerika vorenthalten.
Bei den derzeit laufenden Verhand-
lungen der Welthandelsorganisation
(WTO) spitzt sich die Auseinander-
setzung über diese Frage zu.
Das WTO-Ab-
kommen über
den Schutz geis-
tigen Eigentums
(TRIPS) sah ur-
sprünglich die
Gewährung so-
genannter «Flexibilitäten» für die 48
am wenigsten entwickelten Länder
vor, in denen das jährliche Pro-Kopf-
Einkommen bei unter 800 Dollar
liegt. Die ursprüngliche Vereinba-
rung scheint be-
merkenswert klar:
Auf Ersuchen der
am wenigsten ent-
wickelten Länder
hat die WTO diese
Flexibilitäten zu
gewähren. Diese Länder haben nun
ein derartiges Ersuchen gestellt,
doch die USA und Europa zeigen sich
zögerlich, diesem nachzukommen.
Regelwerk besser ausgestalten
Geistige Eigentumsrechte sind Re-
geln, die wir erschaffen – und die ei-
gentlich dem sozialen Wohl dienen
sollen. Unausgewogene Regelungen
zum Schutz geistigen Eigentums
jedoch führen zu Ineffizienzen – wie
Monopolgewinnen und dem Ver-
säumnis, Wissen optimal zu nut-
zen –, die das Innovationstempo ver-
langsamen. Und wie der Fall Myriad
zeigt, können sie sogar zu unnötigen
Verlusten an Menschenleben füh-
ren. Die amerikanischen Regeln
zum Schutz geistigen Eigentums –
und die Regeln, die der übrigen Welt
aufzuzwingen die USA mithilfe des
TRIPS-Abkommens beigetragen ha-
ben – sind unausgewogen. Wir soll-
ten alle hoffen, dass der Oberste Ge-
richtshof der USA mit seiner Ent-
scheidung im Fall Myriad zur Schaf-
fung eines vernünftigeren und
menschlichen Rahmenwerkes bei-
tragen wird.
* Joseph E. Stiglitz ist Nobelpreisträger für
Ökonomie und Professor an der Columbia
University.
Aus dem Englischen von Jan Doolan.
Copyright: Project Syndicate, 2013.
www.project-syndicate.org
Leben oder Profi t
In den USA steht der Oberste Gerichtshof kurz davor, ein richtungsweisendes Urteil in Sachen geistiges Eigentum zu fällen. Wirtschaftsnobelpreisträger
Joseph E. Stiglitz hofft auf einen Grundsatzentscheid gegen das vorhandene System, das hohe soziale Kosten verursacht und Innovation behindert.
«Das Patentsystem
versäumt es, für ein
Maximum an Innova-
tion zu sorgen.»
«Die wichtigste
Voraussetzung, um neues
Wissen hervorzubringen,
ist bestehendes Wissen.»
«Die amerikanischen
Regeln zum Schutz
geistigen Eigentums
sind unausgewogen.»