10 | Politik
FREITAG
10. MAI 2013
Hintergrund Türkei
Langer Marsch zum Frieden – PKK-Kämpfer ziehen ab
VON CARSTEN HOFFMANN UND
ANNE-BEATRICE CLASMANN, DPA
ISTANBUL In dem fast 30 Jahre dau-
ernden blutigen Kurden-Konflikt in
der Türkei scheint eine Friedenslö-
sung greifbar. In kleinen Gruppen
ziehen Kämpfer der verbotenen Kur-
dischen Arbeiterpartei PKK über Ge-
birgspfade in den Nordirak ab, wo die
Rebellenorganisation mehrere Lager
unterhält. Den Weg dafür haben Ge-
spräche zwischen der islamisch-kon-
servativen AKP-Regierung und dem
inhaftierten PKK-Chef Abdullah
Öcalan bereitet. «Es kommt auf das
Ergebnis an, und es sieht so aus, als
wenn wir vorankommen», sagte der
türkische Vizeregierungschef Bülent
Arinc in einer Bewertung des am
Mittwoch offiziell begonnenen Rück-
zugs, dem Öcalans Aufruf zu einer
Waffenruhe vorausging. Der türki-
sche Geheimdienst MIT beobachte
die Bewegungen der PKK genau. An-
sonsten halten sich die Sicherheits-
kräfte zurück, um Provokationen zu
vermeiden, vor denen beide Seiten
warnen. In dem Kurden-Konflikt sind
in den vergangenen Jahrzehnten
schon viele Hoffnungen auf Frieden
enttäuscht worden. Auch jetzt ist der
Marsch der wohl etwa 2000 Kämpfer
durch die Berge in den Irak mindes-
tens so weit, wie eine endgültige Be-
friedung noch entfernt scheint.
Ernsthafte Bemühungen
Und doch ist diesmal manches an-
ders: Die PKK-Führung will den
Kurswechsel vom bewaffneten hin
zu einem politischen Kampf, wie ihn
Öcalan vorgegeben hat. Und auch
die Regierung von Ministerpräsident
Recep Tayyip Erdogan, der sein
Land wirtschaftlich und politisch
unter den grossen Mächten positio-
nieren will, scheint entschlossen,
den Konflikt beenden zu wollen.
Umgeben von den Krisenherden Sy-
rien, Irak und Iran könnte er wenigs-
ten den Brand im eigenen Land lö-
schen. Einige kulturelle Rechte und
politische Freiheiten muss die Tür-
kei den Kurden sowieso zugestehen,
wenn sie Mitglied der EU oder auch
nur ein moderner Staat sein will. Er-
dogan setzt zudem auf die Kraft ei-
nes wirtschaftlichen Aufschwungs
im armen, kurdischen Südosten des
Landes. «Wenn die Schornsteine der
Fabriken qualmen, wenn die Be-
schäftigung zunimmt, wird der Pro-
zess einer (Friedens-) Lösung end-
gültig sein», sagte er jüngst bei ei-
nem Treffen mit Industriellen. Kur-
dische Politiker haben erklärt, dass
die eigentlichen Herausforderungen
erst nach dem Abzug beginnen. Sie
fordern eine neue Verfassung und
die Absenkung der Zehn-Prozent-
Hürde für den Einzug ins Parlament.
Ausserdem soll das System der soge-
nannten Dorfschützer – einer von
der Regierung im Kampf gegen die
PKK unterstützen Miliz – abgeschafft
werden. Verlangt wird auch eine
Freilassung Öcalans und aller aus
politischen Gründen Inhaftierter.
Auch die Forderung nach einer Au-
tonomie scheint nicht vom Tisch. Es
wäre aber ein historischer Schritt,
um diese Frage politisch zu ringen,
anstatt darum zu kämpfen.
Mehrheit für Friedensprozess
Jüngste Umfragen zeigen, dass eine
Mehrheit der Bevölkerung in der
Türkei den Friedensprozess unter-
stützt. So seien 85 Prozent der An-
hänger der islamisch-konservativen
Regierungspartei AKP für den Kurs,
bei der Kurdenparteipartei BDP sei-
en es 95 Prozent, zitierte die Tages-
zeitung «Hürriyet» eine im Regie-
rungsauftrag erstellte Meinungsum-
frage. Dünn ist die Unterstützung in
der rechtsnationalistischen Opposi-
tionspartei MHP, wo nur etwa ein
Drittel der Anhänger die neue Poli-
tik unterstützt. MHP-Chef Devlet
Bahceli hat schon die Gespräche mit
Öcalan vehement kritisiert. Die PKK-
Kämpfer sehenden Auges über die
Grenzen in den Irak abziehen zu las-
sen, sei ein Verbrechen, sagte er. Er-
dogan wirft er vor, den Kurden eine
Autonomie in Aussicht zu stellen im
Gegenzug dafür, dass diese den
Wechsel zu einem Präsidialsystem
mit Erdogan als starkem Mann an
der Spitze unterstützen.
Irakische Kurden skeptisch
Auch bei den irakischen Kurden
sind nicht alle glücklich über den
Zustrom weiterer PKK-Kämpfer in
ihr Autonomiegebiet. Doch ihre Re-
gierung fühlt sich moralisch ver-
pflichtet, die «kurdischen Brüder»
aus dem Nachbarland aufzunehmen.
Darüber, ob sie womöglich noch von
den interessierten Parteien einen
politischen Lohn für diese friedens-
stiftende Haltung erhalten wird,
schweigt sich die Führung der iraki-
schen Kurden aus. «Die PKK ist oh-
nehin schon in ihren Lagern und in
vier Dörfern von Irakisch-Kurdistan
präsent. Solange die Zahl ihrer
Kämpfer hier nicht 5000 übersteigt,
ist es unproblematisch», sagt ein
Verantwortlicher der Kurdischen
Demokratischen Partei (KDP) von
Autonomiepräsident Masud Barsani.
Berlusconi erneut verurteilt
Schlappe Wieder einmal
wird es eng für Silvio Berlus-
coni. Der frühere italienische
Regierungschef ist wegen
Steuerhinterziehung in einem
Berufungsprozess zu einer
mehrjährigen Haftstrafe ver-
urteilt worden.
Ein Mailänder Gericht befand den
76-jährigen Medienzaren und Milli-
ardär in dem Verfahren um seinen
Mediaset-Konzern des Steuerbe-
trugs für schuldig. Sollte das Urteil
rechtskräftig werden, darf Berlus-
coni auch fünf Jahre lang keine öf-
fentlichen Ämter übernehmen, wä-
re also politisch aussen vor. Seine
Anhänger werteten das Urteil als
Schlag gegen die Grosse Koalition in
Rom, an der Berlusconis Partei PdL
beteiligt ist. Offen ist, welche Fol-
gen das Urteil für die noch junge
Regierung unter Enrico Letta haben
könnte. Immerhin droht Berlusconi
noch im Mai auch eine erste Verur-
teilung in seinem brisanten «Ruby»-
Prozess. Das Gericht bestätigte am
Mittwoch in zweiter Instanz die
harte erste Verurteilung zu vier Jah-
ren Haft auf das Komma genau. Drei
Jahre werden Berlusconi allerdings
unter Berufung auf ein Gesetz zur
Strafermässigung von 2006 erlas-
sen. (sda)
Das Ämterverbot dürfte Silvio Berlusconi besonders fürchten. (Foto: RM)
Xi empfängt Netanjahu
China und Israel
wollen engere Kooperation
PEKING Die UNO-Vetomacht China
und Israel wollen ihre Kooperation
ausbauen. Bei einem Treffen mit
dem israelischen Ministerpräsiden-
ten Benjamin Netanjahu am Don-
nerstag in Peking sagte Staats- und
Parteichef Xi Jinping, China messe
den Beziehungen zu Israel grosse
Bedeutung bei. Netanjahu sah «gros-
ses Potenzial» in der Zusammenar-
beit. Obwohl Israel ein kleines Land
sei, könne es mit seinen technologi-
schen Fähigkeiten in den Bereichen
Energie, Umwelt, Nahrungsmittel,
Wasser und Gesundheit «der perfek-
te Partner für China» sein. Netanja-
hus fünftägige China-Visite war
überschattet von der chinesischen
Kritik an den israelischen Luftan-
griffen in Syrien sowie den Bemü-
hungen für eine friedliche Lösung
des Konflikts zwischen Palästinen-
sern und Israelis. Bei einem Besuch
an der Grossen Mauer nahe Peking
verteidigte Netanjahu erneut das
Recht seines Landes zur Selbstver-
teidigung. So wie sich die Chinesen
mit der Grossen Mauer geschützt
hätten, «werden wir uns weiter an
der südlichen Grenze, den Golanhö-
hen und an allen Fronten verteidi-
gen».
Weitere Gespräche
Nach dem Besuch von Palästinenser-
präsident Mahmud Abbas Anfang
der Woche in Peking sind die Ge-
spräche mit Netanjahu ein weiterer
Beweis für die Bemühungen Chinas,
sich stärker in die Suche nach Frie-
den und Stabilität im Nahen Osten
einzubringen. China legte dabei
erstmals auch einen eigenen Vier-
Punkte-Friedensplan vor. (sda)
USA und Russland wollen für
Syrien eine Verhandlungslösung
Allianz Russland und die USA wollen zur Beilegung des Syrien-Konflikts endlich an einem Strang ziehen. Eine Konferenz
möglichst noch im Mai soll nach Wegen zum Frieden suchen. Der Vorschlag wurde unterschiedlich aufgenommen.
Die
internationale Konfe-
renz zum Syrienkonfl ikt
hatten der russische Aus-
senminister Sergej Lawrow
und sein US-Kollege John Kerry bei
einem Treff en am Dienstagabend
in Moskau vereinbart. Bisher ver-
traten Washington und Moskau in
dem Konfl ikt unterschiedliche Po-
sitionen. Während die russische
Regierung im Assad-Regime einen
Verbündeten sieht, verlangen die
USA dessen Sturz. An der geplanten
Syrien-Konferenz sollen nach rus-
sischen Angaben alle an dem Kon-
fl ikt beteiligten Gruppen des ara-
bischen Landes teilnehmen. Auf
Basis eines im Sommer 2012 von den
fünf UNO-Vetomächten und meh-
reren Nahost-Staaten entworfenen
Fahrplans soll dann der politische
Übergangsprozess eingeleitet wer-
den. Demnach soll in Damaskus eine
Übergangsregierung aus Vertretern
des Regimes und der Opposition
gebildet werden – aus Sicht der USA
ohne Präsident Baschar al-Assad.
Eine solche Führung müsse mit der
Zustimmung beider Seiten gebildet
werden, «was nach unserer Beurtei-
lung klar bedeutet, dass Präsident
Assad nicht Teil dieser Übergangsre-
gierung sein wird», bekräftigte Ker-
ry am Donnerstag in Rom bei einem
Treff en mit seinem jordanischen
Amtskollegen Nasser Judeh.
Dialog in Damaskus
Die syrische Oppositionsplattform
Nationale Syrische Koalition bekräf-
tigte in einer Erklärung aber, dass
der Demokratisierungsprozess «mit
dem Ausscheiden von Assad und den
Spitzen seines Regimes beginnen»
müsse. Bislang gibt es keine Anzei-
chen dafür, dass sich die Führung in
Damaskus auf diese Bedingung ein-
lassen würde. Syriens Regierung sei
bereit zu einem «Nationalen Dialog»
mit der Opposition, allerdings in der
Hauptstadt Damaskus. Wie die syri-
sche Nachrichtenagentur Sana am
Donnerstag unter Berufung auf das
Aussenministerium weiter berichte-
te, unterstrich die Regierung dabei,
dass nur die Syrer selbst über ihre
Zukunft bestimmen könnten. Assads
Regime ruft bereits seit einiger Zeit
zu einem Dialog mit Oppositionellen
auf, allerdings zu Bedingungen, die
die Rebellen strikt ablehnen. So will
die Regierung nur in Syrien verhan-
deln und Assad ist nach wie vor nicht
zum Rücktritt bereit. (sda)
Der russische Aussenminister Sergej Lawrow (rechts) und sein US-Kollege John Kerry kamen sich näher. (Foto:RM)
Gericht ordnet Stopp an
US-Drohnenangriff e
in Pakistan illegal
PESHAWAR Ein pakistanisches Ge-
richt hat angeordnet, die Regierung
des Landes müsse die US-Drohnen-
angriffe stoppen und die unbemann-
ten Flugzeuge notfalls abschiessen
lassen. Der oberste Richter der Pro-
vinz Khyber-Pakhtunkhwa, Dost Mo-
hammad Khan, verurteilte die An-
griffe am Donnerstag in Peshawar
als «Kriegsverbrechen», durch die
Tausende Zivilisten getötet worden
seien. Khan machte den US-Geheim-
dienst CIA für die Angriffe verant-
wortlich. Die bisherige pakistani-
sche Regierung hat die seit Jahren
andauernden Drohnenangriffe im-
mer wieder öffentlich verurteilt. Ihr
wurde aber vorgeworfen, sie heim-
lich zu dulden. (sda)
Angriff in Nigeria
46 Polizisten getötet
ABUJA In Nigeria sind 46 Polizisten in
einen Hinterhalt geraten und getötet
worden. Es sei unklar, ob es sich bei
den Angreifern um Mitglieder der
radikalen islamischen Sekte Boko
Haram handle, sagte ein Polizeispre-
cher. Der Angriff habe sich am
Dienstag im zentralnigerianischen
Bundesstaat Nassarawa ereignet, als
die Beamten einen Milizenführer
festnehmen wollten. Die Männer sei-
en in Lakwio in einen Hinterhalt ge-
raten, zitierten lokale Medien Poli-
zeichef Abayomi Akinrimale. Nigeri-
anische Islamistengruppen agieren
üblicherweise weiter im Norden des
Öl-Exportlandes. (sda)