4 | Inland
Schwerpunkt Auftakt zur Verkehrswoche
Verling: «Es ist nur eine
Frage der Zeit, bis das
Verkehrssystem voll ist»
Interview Markus Verling, Leiter des Amts für Bau und Infrastruktur (ABI), und Philipp
Patsch, Abteilungsleiter Tiefbau, geben einen Überblick zu Problemen und Entschärfungsva-
rianten im Verkehrsbereich. Sie sind sich einig: Das Strassensystem Liechtensteins stösst in
absehbarer Zeit an seine Grenzen, eine Verlagerung ist unumgänglich.
INTERVIEW: MARTIN HASLER
FOTO: MICHAEL ZANGHELLINI
«Volksblatt»: Die Rheinübergänge
sind gemäss einer kürzlich erschie-
nenen Studie überlastet, der Gross-
kreisel in Schaan wird trotz Indust-
riezubringer bald an seine Grenzen
stossen, der Verkehr nimmt stetig zu
– hat Liechtenstein ein Verkehrs-
problem?
Markus Verling: Grundsätzlich
kann man das so nicht generell sa-
gen, man muss differenzieren – wir
haben kein Problem von morgens
bis abends, 365 Tage im Jahr. Ein
Problem haben wir aber in den Spit-
zenzeiten morgens und abends vor
allem mit dem inländischen und
grenzüberschreitenden Pendlerver-
kehr, was sich besonders an den
Rheinübergängen manifestiert; des-
halb wurden in diesem Bereich nun
auch Massnahmen eingeleitet.
Eine aktuelle Studie zeigt, dass die
Probleme vor allem bei den Über-
gänge in Vaduz–Sevelen und Ben-
dern–Haag bestehen, die in den Spit-
zenstunden jeweils ein Aufkommen
von über 2000 Fahrzeugen abwi-
ckeln müssen. Diese Zahlen waren
der Anlass dafür, zu fragen: Was
kann man organisatorisch und bau-
lich optimieren? Dabei konnte nach-
gewiesen werden, dass die Kapazität
dieser Übergänge mittelfristig an ih-
re Grenzen stossen. Die Handlungs-
möglichkeiten sind begrenzt, vor al-
lem, weil uns bei den Autobahnan-
schlüssen die Hände gebunden sind.
Bauliche Massnahmen sollten zu-
dem immer die letzte Möglichkeit
sein, deshalb gilt es vorderhand, das
Verkehrssystem betrieblich zu opti-
mieren und den
Umstieg auf den
ÖV und den Fahr-
rad- und Fussver-
kehr zu fördern.
Philipp Patsch:
Uns muss bewusst
sein, dass die Au-
tobahnanschluss-
knoten in absehbarer Zeit an ihre
Grenzen stossen werden, was uns
den Zugang zur Autobahn erschwert.
Unsere Verkehrszähldaten zeigen,
dass die Zuwachsraten hoch sind.
Wenn die Autobahn als Hochleis-
tungsstrasse aufgrund der Überlas-
tung der Anschlussknoten nicht
mehr funktioniert, wird das massive
Konsequenzen auf das ganze Ver-
kehrsnetz Liechtensteins haben. Die
Autobahn ist bei uns nicht nur eine
Fernverkehrsstrecke, sondern ent-
lastet als Umfahrungsstrasse auch
den Binnenverkehr massiv. Funktio-
niert diese Entlastungswirkung für
den Binnenverkehr nicht mehr aus-
reichend, wird das sehr schnell gra-
vierende Probleme nach sich ziehen.
Deshalb müssen wir den Fokus auf
das gesamte Verkehrssystem legen –
einerseits auf Optimierungen, ande-
rerseits auf Alternativen.
Verling: Beim Grosskreisel Schaan
war uns von Beginn an klar, dass wir
eine maximale Kapazitätsreserve von
20 Prozent haben – bei einem jährli-
chen Verkehrswachstum von 2 Pro-
zent ist diese in rund 10 Jahren ausge-
schöpft. Optimierungen lassen sich
nur noch beim Durchfluss verbun-
den mit einer verbesserten gegensei-
tigen Rücksichtnahme der Verkehrs-
teilnehmer erreichen. Wenn aber die
Gemeinde Schaan nun auf den Quar-
tierstrassen Massnahmen umsetzen
will, die den Verkehr massiv in Rich-
tung der Landstrassen zurückverla-
gert, dann wird die Überlastung des
Zentrums um einiges früher der Fall
sein: Sollte die harte Massnahme um-
gesetzt werden, ganze Quartierstras-
sen zu sperren, wird die Kapazitäts-
grenze des Grosskreisels noch deut-
lich früher erreicht.
Mit den langen Vorlaufzeiten im Ver-
kehrsbereich muss also schon bald
über Lösungen
nachgedacht wer-
den.
Patsch: Man
muss sehen, dass
ein Horizont von
zehn Jahren für
ein Infrastruk-
turprojekt nicht
wirklich viel ist: Diese Zeit geht sehr
schnell vorbei. Wenn wir ein entste-
hendes Problem sehen, dann müs-
sen wir jetzt handeln, da Infrastruk-
turmassnahmen eine Vorlaufzeit
von mindestens fünf, wahrscheinli-
cher aber von zehn Jahren haben –
sonst sind wir deutlich zu spät dran.
Verling: Das sieht man gut am In-
dustriezubringer Schaan: Als ich
2002 zum Tiefbauamt gekommen
bin, haben wir das Projekt gerade
übernommen – in diesem Jahr wird
er eröffnet. Und davor wurden schon
in der Gemeinde 20 Jahre lang Dis-
kussionen geführt. Von der Umwelt-
verträglichkeitsprüfung mit allen
Gerichtsverfahren über den Land-
tagsentscheid bis zum Referendum:
Diese 1,4 Kilometer lange Strasse
brauchte für diesen Weg über 10 Jah-
re. Dementspre-
chend müssen wir
heute schon über
die Situation im
Schaaner Zent-
rum nachdenken
– denn darauf hat
der Industriezu-
bringer nur einen
geringen Effekt. Er hat primär zwei
Ziele: Einerseits die Entlastung der
Wohnquartiere vom Schleichver-
kehr, der in das Industriegebiet
muss. Andererseits die Entlastung
des Grosskreisels vom Schwerver-
kehr – das gibt eine gewisse Entlas-
tung für das Zentrum, aber quantita-
tiv ist der Effekt allein für das Zent-
rum nicht sehr gross.
Mit den Rheinübergängen und dem
Schaaner Zentrum sind schon zwei
wichtige Themen angesprochen. Wo
sehen Sie derzeit innerhalb des
liechtensteinischen Strassennetzes
weitere Baustellen?
Patsch: Da sind drei Punkte zu nen-
nen: Erstens das Verkehrssystem bei
der Rheinbrücke in Bendern mit sei-
nen zwei Kreiseln, das in seiner jet-
zigen Konstellation am Limit ist – da
müssen wir Massnahmen setzen.
Zweitens der Knoten bei der Rhein-
brücke Vaduz – vom Autobahnan-
schluss über die Abzweigung nach
Triesen bis zum Kreisel in Richtung
Vaduz. Drittens die Engelkreuzung
in Nendeln, wo wir in Kombination
mit dem Bahnübergang Probleme
haben. Diese müssen wir entflech-
ten und die Bahnquerung niveaufrei
gestalten.
Verling: Die Notwendigkeit dieser
Unterführung sehen wir unabhängig
vom S-Bahn-Projekt. Sie ist ein Be-
dürfnis des MIV genauso wie des ÖV
und gibt Nendeln die Möglichkeit zu
einer aktiven Zentrumsgestaltung
und Entlastung der Quartiere vom
Schleichverkehr.
In der Vergangenheit haben Um-
weltverbände oft kritisiert, dass im
liechtensteinischen Verkehrswesen
eine umfassende Strategie fehlt. Im
2008 veröffentlichten Mobilitäts-
konzept wurde dies erstmals ver-
sucht. Wie be-
werten Sie den
Erfolg dieses
Konzepts?
Patsch: Damit
hatten wir tat-
sächlich zum ers-
ten Mal ein Kon-
zept und eine
Strategie darüber, wie sich unser
Verkehrssystem entwickeln soll.
Diese wurde unter Einbindung ver-
schiedener Interessengruppen so-
wie den Gemeinden ausgearbeitet
und ist abgestimmt mit dem Agglo-
merationsprogramm Werdenberg–
Liechtenstein sowie der Gesamtver-
kehrsplanung Feldkirch. In den ver-
gangenen Jahren wurden viele im
Konzept vorgesehene Massnahmen
umgesetzt – unter anderem einige
Radwege und -verbindungen. Im ÖV
wurde die Busspur zwischen Vaduz
und Triesen realisiert, alle Lichtsig-
nale haben neu ein Busbeeinflus-
sungssystem; das S-Bahn-Projekt,
das sehr zentral für die Verkehrsent-
wicklung des Landes ist, ist ausser-
dem sehr weit vorangekommen.
Verling: Das Konzept trägt den Titel
«Mobiles Liechtenstein 2015», da
kommt man irgendwann auch an ei-
nen Punkt, an dem man über weite-
re Schritte nachdenken und ein neu-
es Konzept mit einem weiteren Zeit-
horizont entwickeln muss. Das wäre
aus unserer Sicht eine wichtige Auf-
gabe für die neue Regierung, die zu
Beginn der Legislatur diesen Pro-
zess noch einmal aufrollen und fra-
gen sollte: Wie weiter nach 2015?
Wir sind überzeugt, dass das Mobili-
tätskonzept ein gutes Instrument für
die Verkehrsplanung ist – diesen
Prozess sollte man unbedingt wei-
terführen.
Bei der Präsentation der bereits an-
gesprochenen Studie über die
Rheinübergänge fiel ein Satz, der
aufhorchen liess: Angesichts des
steigenden Verkehrsaufkommens
seien die vorgeschlagenen Massnah-
men reine Kosmetik, ohne vermehr-
ten Umstieg auf den ÖV sei der Ver-
kehrskollaps unvermeidbar. Wie
lässt sich das verhindern?
Verling: Wenn man das derzeitige
Verkehrsaufkommen in Kombinati-
on mit dem prognostizierten Wachs-
tum und den Reserven im Verkehrs-
system ansieht, ist es nur eine Frage
der Zeit, bis es voll ist. Und dann ist
auch mit grossen Investitionen
nichts mehr zu machen – uns sind
die Hände gebunden. Eine Gegen-
massnahme ist das im Agglomerati-
onsprogramm postulierte Kaska-
densystem. Dieses sieht erstens vor,
Verkehr möglichst zu vermeiden, in-
dem die Siedlungen nach innen ver-
dichtet werden, sodass viele Wege
zu Fuss oder mit dem Rad zurückge-
legt werden können. Zweitens die
weitgehende Verlagerung des MIV
auf ÖV oder Langsamverkehr. Und
drittens die Entlastung der Zentren
sowie ihre gleichzeitig attraktive
Ausgestaltung.
Das war auch bei den Rheinübergän-
gen klar: Wir können nicht einfach
isoliert den MIV betrachten, son-
dern wir müssen das gesamte Ver-
kehrssystem mit in unsere Überle-
gungen einbinden. Gleichzeitig müs-
sen wir den Verkehrsverlauf lokal
verbessern, wo dies möglich ist – es
geht aber nicht darum, neue Stras-
sen zu bauen, sondern um lokale
Optimierungen.
Patsch: Tatsache ist, dass das Stra-
ssensystem an den Rheinübergängen
an seine Grenzen stösst – mehr kann
an diesen Stellen nicht mehr abgewi-
ckelt werden. Da wir aber zu den
Hauptverkehrszeiten die Pendler ins
Land holen müs-
sen, gilt es dafür
vor allem das
Schienensystem
zu nutzen. Vorarl-
berg und St. Gal-
len haben hier
schon viel inves-
tiert, nun liegt es
an uns, diese vorhandenen Bahnsys-
teme zu verknüpfen und auch für
Liechtenstein zu nutzen.
Herr Verling, Sie haben gerade et-
was Interessantes gesagt: Es gehe
nicht darum, neue Strassen zu bau-
en. Da gibt es auch immer wieder
Reibereien mit den Umweltverbän-
den, die kritisieren, dass es über-
haupt keine neuen Strassen geben
dürfe, da diese Mehrverkehr erzeu-
gen. Was sagen Sie in diesem Zusam-
menhang zur Kritik am Vorgehen
des TBA vonseiten der LGU und des
VCL?
Verling: Wir verfolgen schon seit
Jahren einen generelleren Ansatz.
Wir wollen nicht primär neue Stras-
se bauen – aber es ist unsere Aufga-
be, dafür zu sorgen, dass das gesam-
te Verkehrssystem funktioniert. Und
wenn man sich ansieht, was auf der
Achse Triesen–Vaduz–Schaan ver-
kehrlich passiert und welche Alter-
nativen wir haben, dann sind wir
zum Handeln aufgefordert. Um auf
dieser Achse einen attraktiven ÖV
anbieten zu können, muss man sich
die möglichen Lösungen ansehen:
Irgendwann ist die Landstrasse ein-
fach voll. Das haben wir in Schaan
mit dem Industriezubringer ge-
macht, und die gleichen Überlegun-
gen macht man sich derzeit auch für
das Industriege-
biet Triesen.
Da muss man
sich fragen, wie
sinnvoll es ist,
dass alle Autos
und Lastwagen
den Umweg über
den Aukreisel
und die Landstrasse nehmen, wenn
es zwischen Rheinbrücke und Indus-
triegebiet schon eine Achse gibt, die
heute jedoch alles andere als opti-
mal ist. Ist es nicht sinnvoll, diese
Arbeitsplätze direkt mit der Auto-
bahn zu verbinden? Wenn man die
Verkehrszahlen nüchtern betrach-
tet, ist nachvollziehbar, dass dort ei-
ne Strassenverbindung geschaffen
werden sollte: Wir gewinnen da-
durch weniger Verkehr auf Zollstras-
«Die Autobahnan-
schlussknoten werden in
absehbarer Zeit an ihre
Grenzen stossen.»
PHILIPP PATSCH
FACHBEREICHSLEITER TIEFBAU
«Wir brauchen eine
Weiterentwicklung
des Verkehrssystems
durch die S-Bahn.»
MARKUS VERLING
LEITER ABI
«Dank Investitionen
in den ÖV haben wir
jetzt ein sehr attraktives
Bussystem.»
PHILIPP PATSCH
FACHBEREICHSLEITER TIEFBAU