AUSLAND
VOLKSBLATT
12 DONNERSTAG, 3. DEZEMBER 2009
Russische Islamisten
bekennen sich zu Anschlag
MOSKAU – Islamistische Untergrund-
kämpfer aus dem russischen Konfliktgebiet
Nordkaukasus haben sich zu dem Terroran-
schlag auf den Schnellzug Moskau–St. Pe-
tersburg bekannt. Nachdem die Regierung
in Moskau ihre «blutige Besatzungspolitik»
im Kaukasus fortsetze, habe sich die Grup-
pe zu einem «Sabotagekrieg» im russischen
Kernland entschlossen, heisst es in einem
Schreiben, das am Mittwoch auf einer Inter-
netseite tschetschenischer Separatisten ver-
öffentlicht wurde. Kremlchef Dmitri Med-
wedew erliess wegen der Terrorgefahr am
Abend eine Anordnung über die Verschär-
fung der Sicherheitsvorkehrungen an den
Bahnstrecken Russlands.
Truppenaufstockung
in Afghanistan begrüsst
NEW YORK – UN-Generalsekretär Ban
Ki Moon hat die neue Afghanistan-Strategie
von US-Präsident Barack Obama und die
damit verbundene Truppenaufstockung be-
grüsst. Besonders befürworte er den Plan,
«militärische und zivile Anstrengungen» zu
verbinden, sagte Ban am Mittwoch in New
York. Die Vereinten Nationen seien unter-
dessen weiter dem Ziel verpflichtet, Afgha-
nistan zu helfen, Frieden, Stabilität und
Wachstum zu erreichen. Obama hat seine
neue Strategie am Dienstagabend angekün-
digt. Demnach sollen rund 30 000 weitere
US-Soldaten in Afghanistan stationiert wer-
den. Ein Schwerpunkt soll auf der Ausbil-
dung afghanischer Sicherheitskräfte liegen.
Russische Richter treten
nach Kremlkritik zurück
MOSKAU – Zwei Richter des russischen
Verfassungsgerichts haben ihr Land als
«Unrechtsstaat» kritisiert und auf Druck
führungstreuer Kollegen nun selbst ihren
Hut genommen. Das berichtete die Mos-
kauer Zeitung «Kommersant» am Mitt-
woch. Die beiden Topjuristen Anatoli Ko-
nonow und Wladimir Jaroslawzew hatten in
Interviews etwa gesagt, die russischen Ge-
richte seien wie zu Sowjetzeiten von «Si-
cherheitsorganen» – also auch von den Ge-
heimdiensten – gesteuert. Richter hätten nur
die Aufgabe, von den Machthabern im
Kreml und dessen Umfeld bereits getrof-
fene Entscheidungen zu bestätigen, hatte
Jaroslawzew einer Zeitung gesagt.
NACHRICHTEN
HINTERGRUND: KLIMA-GIPFEL – INDUSTRIESTAATEN WEITERHIN DIE GRÖSSTEN VERSCHMUTZER
Seit Jahren wird über Massnahmen
gegen den Klimawandel diskutiert,
die Bilanz ist bisher jedoch mehr als
mager. Nach den kürzlich veröffent-
lichten aktuellen wissenschaftlichen
Daten der «Copenhagen Diagnosis»
stiegen die globalen, jährlichen Koh-
lendioxid-Emissionen von 1990 bis
2008 um fast 40 Prozent an. Dras-
tische Zunahmen sind vor allem in
Schwellen- und Entwicklungslän-
dern zu verzeichnen, doch bleiben
gemessen am Pro-Kopf-Ausstoss die
Industriestaaten vorerst noch die
grössten Verschmutzer.
Der weltweit grösste Erzeuger von
Treibhausgasen ist seit einigen Jah-
ren China. Die Internationale Ener-
gieagentur (IEA) gibt den Ausstoss
allein aus dem Energiebereich für
2007 mit 6,1 Gigatonnen
CO2
an, 3,9
Gigatonnen mehr als 1990. Chinas
Anteil an den weltweiten Emissionen
stieg damit innerhalb von 17 Jahren
von elf auf 21 Prozent. Auch der Pro-
Kopf-Ausstoss stieg deutlich von 2,0
auf 4,6 Tonnen, liegt damit aber im-
mer noch unter den Werten der In-
dustriestaaten. Auch unternimmt
China Anstrengungen, um durch
mehr Effizienz den Ausbau erneuer-
barer Energien und durch Auffors-
tung die Emissionen zu begrenzen.
Dies gleicht jedoch den Zuwachs
durch Wirtschaftswachstum und Be-
völkerungszunahme nicht aus.
Die USA liegen in der Rangfolge
der grössten Verschmutzer der Atmo-
sphäre auf Platz zwei mit einem en-
ergiebezogenen
CO2-Ausstoss
von
5,7 Gigatonnen im Jahr 2007. Das
sind 0,9 Gigatonnen mehr als 1990.
Den Gesamtausstoss an Treibhausga-
sen gibt das UN-Klimasekretariat mit
7,1 Gigatonnen
CO2-Äquivalent
an.
Das
CO2-Äquivalent
schliesst sons-
tige Treibhausgase mit ein. Einen
Rekordwert belegen die USA unter
den grossen Industriestaaten auch bei
den Pro-Kopf-Emissionen, selbst
wenn diese leicht von 19,1 Tonnen
1990 auf 18,7 Tonnen 2007 zurück-
gingen. Präsident Barack Obama hat
angekündigt, die
CO2-Emissionen
sollten bis 2020 wieder 17 Prozent
unter den Wert von 2005 fallen. Das
bleibt weit hinter den Zusagen der
EU zurück, ist aber gemessen an der
Emissionszunahme in den ver-
gangenen Jahren trotzdem anspruchs-
voll.
Spanien mit schlechter Bilanz
Ein sehr uneinheitliches Bild bietet
die EU. Ihre Gesamtemissionen san-
ken bis 2007 um 4,3 Prozent auf 4,1
Gigatonnen
CO2-Äquivalent.
Das
reicht noch nicht, um die Acht-Pro-
zent-Vorgabe für die EU aus dem
Kyoto-Protokoll zu erfüllen. Wäh-
rend Deutschland mit minus 21,3
Prozent und einem Gesamtausstoss
von 0,95 Gigatonnen
CO2-Äquiva-
lent sein nationales Kyoto-Ziel von
21 Prozent bereits erreicht hat,
schnellten die Emissionen Spaniens
um 53,5 Prozent nach oben. Auch
weist die IEA für die energiebezo-
genen
CO2-Emissionen
nur einen
Rückgang um magere 0,1 Gigaton-
nen auf 4,0 Gigatonnen aus – die üb-
rige Ersparnis verdankt die EU zum
erheblichen Teil dem industriellen
Strukturwandel in Osteuropa. Die
Pro-Kopf-Emissionen der EU-Staa-
ten sanken von 8,5 Tonnen auf 7,8
Tonnen. Die EU hat zugesagt, ihre
Gesamtemissionen bis 2020 um 20
Prozent zu senken, im Rahmen eines
internationalen Abkommens um min-
destens 30 Prozent.
Anstieg in Asien
Die Gesamtemissionen Japans stie-
gen von 1990 bis 2007 um 8,2 Pro-
zent auf 1,4 Gigatonnen
CO2-Äqui-
valent. Das Land dürfte damit seine
Kyoto-Ziele weit verfehlen. Bei den
energiebezogenen Emissionen gab es
einen leichten Zuwachs von 1,1 auf
1,2 Gigatonnen
CO2.
Die Pro-Kopf-
Werte stiegen ebenfalls und zwar von
3,5 auf 4,0 Tonnen
CO2,
was unter
den Industriestaaten aber noch ein
vergleichsweise niedriger Wert ist.
Ein rasanter Aufholprozess ist in
Indien zu beobachten – wirtschaft-
lich, aber auch beim Treibhausgas-
ausstoss. Die energiebezogenen
CO2-
Emissionen verdoppelten sich von
0,6 Gigatonnen 1990 auf 1,3 Giga-
tonnen 2007. Auch der Pro-Kopf-
Ausstoss stieg drastisch von 0,7 Ton-
nen auf 1,2 Tonnen, liegt damit aber
noch in einem Bereich, den Wissen-
schaftler als im globalen Durchschnitt
halbwegs verträglich ansehen.
Dicke Luft vor Kopenhagen
Drastische Zunahme in Schwellen- und Entwicklungsländern
Die Fabrikschlote qualmen als ob es nie einen Klimawandel geben würde.
FOTO
WODICKA
Erinnern Am Vorabend
des 25. Jahrestags der Giftgaska-
tastrophe in der zentralindischen
Stadt Bhopal ziehen Überlebende
zur ehemaligen Pestizidfabrik des
US-Konzerns Union Carbide, aus
der am 3. Dezember 1984 etwa
40 Tonnen hochgiftiges Methyl-
isocyanat (MIC) ausgetreten wa-
ren. Die meisten Schätzungen ge-
hen davon aus, dass in den 72
Stunden nach dem Unglück etwa
8000 Menschen zu Tode kamen.
Mehr als 15 000 weitere starben
bis heute an den Spätfolgen. Bho-
pal gilt als grösste Industrie-
katastrophe der Geschichte.
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EPA
Schweiz im Kreuzfeuer
Kritiker des Minarett-Verbots denken laut über Boykott nach
BERN – Drei Tage nach dem Ja
der Schweizer Stimmbürger zum
Minarett-Verbot ist am Mittwoch
von verschiedener Seite die Mög-
lichkeit eines Wirtschaftsboy-
kotts gegen die Schweiz ins Ge-
spräch gebracht worden. Eine
breite Bewegung zeichnete sich
vorerst aber nicht ab.
Der türkische Europaminister Ege-
men Bagis rief reiche Muslime da-
zu auf, ihr Geld von den Schweizer
Banken abzuziehen und auf Ban-
ken in die Türkei zu überweisen,
wie die Zeitung «Hurriyet» am
Mittwoch berichtete. «Ich bin
sicher, diese Entscheidung wird un-
sere Brüder in muslimischen Län-
dern dazu veranlassen, ihre Anla-
gen bei Schweizer Banken zu über-
prüfen», soll Bagis am Dienstag am
Rande eines Besuchs in Stockholm
gesagt haben.
Auch Daniel Cohn-Bendit riet
reichen Muslimen, ihr Geld von
den Schweizer Banken abzuziehen.
Dies wäre die grossartigste aller
Antworten auf das Minarett-Ver-
bot, sagte der Fraktionspräsident
der Grünen im EU-Parlament in
einem Interview der Genfer Tages-
zeitung «Le Temps» (Mittwochaus-
gabe). «Die Kassen der Eidgenos-
senschaft leeren: das ist es, was
man tun müsste. Auf dass Saudi-
Arabien oder die Vereinigten Ara-
bischen Emirate euren Finanzplatz
verlassen», sagte Cohn-Bendit und
erinnerte an den Druck des US-Fis-
kus in der UBS-Affäre. Wenn diese
Abstimmung wirtschaftliche Kon-
sequenzen habe, würden es die
Schweizer verstehen.
Garantien für Religionsfreiheit
Wirtschaftssanktionen brachte
zudem der Indonesische Rat der
Religionsgelehrten (MUI), das Ule-
ma Council, ins Spiel. Das Mina-
rett-Verbot sei Zeichen von Hass
und Rassismus und klarer Aus-
druck von religiöser Intoleranz in
der Schweiz, erklärte Ratssekretä-
rin Wellya Safitri. «Jakarta muss
jetzt von der Schweizer Regierung
Garantien verlangen, dass die Reli-
gionsfreiheit auch für Muslime ga-
rantiert ist und der Abstimmungs-
ausgang nicht die Schweizer Poli-
tik bestimmt», sagte die Sprecherin
des obersten muslimischen Rats
weiter. Ansonsten müsse die indo-
nesische Regierung harte rechtliche
oder politische Massnahmen er-
greifen und allenfalls wirtschaft-
liche Sanktionen und den Abbruch
der diplomatischen Beziehungen
ins Auge fassen.
Muslime sollen sich einmischen
Der Schweizer Islamwissen-
schaftler Tariq Ramadan forderte
unterdessen die Muslime auf, sich
in alle gesellschaftlichen Belange
einzumischen. Die Muslime in der
Schweiz hätten sich im Vorfeld der
Minarett-Abstimmung zurückge-
halten, um den «clash» zu vermei-
den, sagte der in Oxford lehrende
Schweizer der deutschen Wochen-
zeitung «Die Zeit». «Aber Schwei-
gen ist inakzeptabel», fügte er an.
Muslime müssten sich in öffent-
liche Debatten einmischen, nicht
nur, wenn es um den Islam gehe.
Der Erfolg der SVP, die in den ver-
gangenen Jahren gelernt habe, sich
der Medien zu bedienen und das
Volk zu beeinflussen, sei ein Warn-
ruf für alle Muslime: «Nicht stumm
verharren, nicht passiv bleiben.»
Ramadan warnte die Muslime zu-
dem davor, jetzt in die Falle der Po-
pulisten zu tappen. «Wir sollten ih-
nen keine Zitate liefern, die sie
dann wiederum dazu verwenden,
zu behaupten, wir seien gegen sie»,
fügte Ramadan an.
SP-Initiative
Als Reaktion auf das Ja zur Mi-
narett-Initiative lancierte die SP
Schweiz am Mittwoch ein Manifest
für eine offene und tolerante
Schweiz, das online unterzeichnet
werden kann. Der Entscheid des
Stimmvolks sei ein Rückschlag für
die Bemühungen um einen respekt-
vollen Umgang mit Minderheiten
sowie für eine Kultur der Offenheit
und Toleranz, teilte die Partei mit.