AUSLAND
VOLKSBLATT
10 MONTAG, 5. OKTOBER 2009
BRÜSSEL – Mit ihrem klaren Ja zur
EU-Reform haben die Iren dem fast
schon totgesagten Vertrag von Lissa-
bon neues Leben eingehaucht. Doch
der Stimmungswandel in Irland, des-
sen Bevölkerung in einem ersten Re-
ferendum noch gegen den Vertrag vo-
tiert und die EU damit in eine tiefe
Krise gestürzt hatte, reicht zur Ret-
tung des Reformwerks nicht aus. Denn
aus Tschechien kommt weiter scharfer
Gegenwind. Der tschechische Präsi-
dent Vaclav Klaus bekräftigte am
Samstag, er werde den Vertrag vorerst
nicht unterzeichnen. Er wolle zunächst
die Entscheidung des tschechischen
Verfassungsgerichts abwarten.
Klaus weigert sich noch
Eine Gruppe dem Präsidenten nahe
stehender EU-skeptischer Senatoren
hatte am Dienstag das höchste Gericht
des Landes angerufen, um die Verfas-
sungsmässigkeit des Vertragswerks
prüfen zu lassen. Das Gericht hatte
zwar bereits im vergangenen Jahr eine
erste Klage gegen den Reformvertrag
abgewiesen. Die Kritiker stützen ihre
neuerliche Klage nun aber darauf,
dass der Vertrag im Sommer um Sou-
veränitätsgarantien für Irland ergänzt
wurde.
Vertragsgegner hoffen auf Briten
Die tschechischen Europaskeptiker
spielen auf Zeit. Denn wenn das tsche-
chische Verfassungsgericht den Re-
formvertrag nun erneut einer monate-
langen Prüfung unterzieht, könnte
Präsident Klaus seine Unterschrift bis
zu den für das kommende Frühjahr er-
warteten Neuwahlen in Grossbritan-
nien hinauszögern. Bei einem Wahl-
sieg der oppositionellen Konserva-
tiven könnten diese dann ein Referen-
dum über den Reformvertrag im tradi-
tionell EU-skeptischen Grossbritan-
nien ankündigen. Der britische EU-
Abgeordnete Timothy Kirkhope, Statt-
halter der Tories im Europaparlament,
bekräftigte am Samstag die Forderung
seiner Partei nach einem Referendum.
«Der britischen Bevölkerung wird
noch immer die Mitsprache verwei-
gert», kritisierte Kirkhope, Vize-Frak-
tionschef der europaskeptischen Frak-
tion der Konservativen und Reformer
(ECR) im EU-Parlament.
EU-Kommissionspräsident José
Manuel Barroso appellierte am Sams-
tag an den tschechischen Präsidenten
Klaus und dessen polnischen Kolle-
gen Lech Kacynski, den Reformver-
trag zu unterzeichnen. «Nachdem der
Lissabon-Vertrag in allen EU-Staaten
in einem demokratischen Prozess an-
genommen worden ist, hoffe ich, dass
die nötigen Prozeduren für sein In-
krafttreten in Polen und Tschechien so
schnell wie möglich abgeschlossen
werden können», erklärte Barroso in
Brüssel. Anders als der tschechische
Staatschef Klaus hat der polnische
Präsident Lech Kaczynski wiederholt
angekündigt, er werde den Reform-
vertrag nach einem Ja in Irland unter-
schreiben.
Anti-Klaus-Kurs gefordert
Die Fraktionsvorsitzenden der Grü-
nen im EU-Parlament, Daniel Cohn-
Bendit und Rebecca Harms, forderten
einen harten Kurs gegen Klaus. «Eu-
ropa muss Druck auf ihn ausüben und
ihm klarmachen, dass er seine bizarre
Obstruktionspolitik aufgeben muss.
Sonst dürfen die Tschechen keinen
Kommissar in der neuen EU-Kom-
mission bekommen.»
Zeitplan in Gefahr
Tatsächlich hätte eine weitere Blo-
ckade des Reformvertrags fast zwangs-
läufig Folgen für die Zusammenstel-
lung der neuen Kommission. Falls
diese auf Grundlage des bisherigen
EU-Vertrags von Nizza eingesetzt
werden muss, müsste das Kollegi-
um aus bislang 27 Kommissaren
nämlich verkleinert werden – min-
destens ein Land würde dann sei-
nen Kommissar verlieren. Um das
zu vermeiden, wollen Kommissi-
onspräsident Barroso und die EU-
Staats- und Regierungschefs mit der
Neubesetzung der Brüsseler Behörde
bis zum Inkrafttreten des Lissabon-
Vertrags warten. Die gegenwärtige
Kommission soll nach Ablauf ihrer
Amtszeit am 31. Oktober geschäfts-
führend im Amt bleiben, bis die Rati-
fizierung des Reformvertrags abge-
schlossen ist. Sollte der tschechische
Präsident Klaus seine Unterschrift
jetzt aber tatsächlich noch über Mo-
nate zurückhalten, wäre dieser Zeit-
plan kaum noch haltbar. Denn eine ge-
schäftsführende Kommis-
sion hätte keine volle
Legitimation und
wäre politisch
betrachtet eine
lahme Ente.
Klaus spielt auf Zeit
Nach irischem Ja zum Reformvertrag wartet Europa auf Tschechien – EU-Kritiker hoffen auf Grossbritannien
HINTERGRUND: WAS PASSIERT
JETZT,
DA IRLAND DEN REFORMVERTRAG BEJAHTE – VON BARBARA SCHÄDER (AP)
Erleichterung für EU-
Freunde: Brian Cowens
Iren haben sich für das
Vertragswerk entschieden.
Freude herrscht bei die-
sem Anhänger der oppositio-
nellen Sozialisten. Griechen-
land steht vor einem Macht-
wechsel: Die Sozialisten
konnten die Parlamentswahl
am Sonntag laut ersten Wahl-
nachfragen klar für sich ent-
scheiden und stürzten damit
die konservative Regierung
von Ministerpräsident Kons-
tantinos Karamanlis. Die Pan-
hellenische Sozialistische Be-
wegung (PASOK) unter Geor-
gios Papandreou kann ver-
mutlich sogar mit der absolu-
ten Mehrheit im Parlament
rechnen und verkündete einen
«historischen Wahlsieg».
Nach einer Erhebung mehre-
rer Fernsehsender lag die PA-
SOK mit einem Stimmanteil
von 41 bis 44 Prozent in Füh-
rung.
FOTO
KEYSTONE
SPÖ bekriegt sich selbst
Krise der Sozialdemokraten: Flecker für Faymann «bekannter Zerstörer»
GRAZ/WIEN – Harsche Worte hat
SPÖ-Vorsitzender Werner Fay-
mann über den steirischen Land-
tagspräsidenten Kurt Flecker (S)
nach dessen Rücktrittsaufforde-
rung gefunden.
In einem Interview mit der «Klei-
nen Zeitung» (Sonntagsausgabe)
bezeichnete der Bundeskanzler den
steirischen Parteigenossen als «be-
kannten Zerstörer», der nicht in das
Erscheinungsbild einer modernen
sozialdemokratischen Partei passe.
Inhaltliche Debatten, wie die vom
steirischen Landeshauptmann Franz
Voves (S) in der Forderung nach
Erhöhung der Arbeitslosengelder,
seien laut Faymann sehr wichtig,
aber: «Wenn jemand wie der Herr
Flecker immer glaubt, er kann sei-
nen eigenen Frust abreagieren,
dann muss man schon auch sagen:
Das passt nicht in ein Erschei-
nungsbild einer modernen sozial-
demokratischen Partei.»
«Ganz klare Minderheitsmeinung»
Die Ansichten Fleckers repräsen-
tierten eine ganz klare Minderheits-
meinung, was ihm auch die Verant-
wortlichen der steirischen Partei
versichert hätten. Für Faymann, der
davon ausgeht, die Partei in die
nächste Nationalratswahl zu füh-
ren, gewinnt die SPÖ mit positiv
agierenden Personen, «aber nicht
mit Leuten wie einem Herrn Fle-
cker, der seinen Frust abreagiert.
Wir sind keine Selbsthilfegruppe».
Man könne in einem Thema nach-
schärfen, «und es wird schon noch
der Moment kommen, wo wir für
eine sozialere Massnahme, für eine
wärmere, engagiertere, arbeit-
nehmerfreundlichere Massnahme
als der Koalitionspartner eintre-
ten», so der Bundeskanzler.
Westerwelle will gründlich sein
Union und FDP stecken vor Verhandlungsbeginn Fronten ab
BERLIN – Vor der ersten Runde
der Koalitionsverhandlungen am
heutigen Montag haben Union
und FDP noch einmal ihre Positi-
onen abgesteckt.
CDU-Landesminister machten am
Wochenende deutlich, dass sie bei
der inneren Sicherheit nicht nachge-
ben wollen. Die FDP forderte erneut
die Abkehr vom Gesundheitsfonds
und Einsparungen beim Militär.
Der FDP-Vorsitzende Guido Wes-
terwelle betonte, bei den Verhand-
lungen gehe Gründlichkeit vor
Schnelligkeit. Westerwelle sprach
sich dagegen aus, schon vor den
Verhandlungen die Partner unter
Druck zu setzen. Gründlichkeit sei
«viel wichtiger als die Frage, ob wir
uns ein paar Tage länger auf den Ho-
senboden setzen und verhandeln»,
sagte er der «Bild am Sonntag».
Kanzlerin Angela Merkel hatte den
Jahrestag des Mauerfalls am 9. No-
vember als Termin genannt, an dem
die neue Regierung stehen soll.
Landesinnenminister der Union
beharrten auf dem Paket der Sicher-
heitsgesetze. «Mit der Union wird
es auf diesem Feld keinen Kurs-
wechsel geben», sagte der hessische
Innenminister Volker Bouffier
(CDU) der «Welt am Sonntag».
General fordert
mehr Truppen
LONDON – Der britische
Generalstabschef David
Richards hat vor einer Nie-
derlage in Afghanistan ge-
warnt und sich der Forderung
nach einer Truppenaufsto-
ckung angeschlossen. Seit
Beginn des Einsatzes 2001
sind 219 britische Soldaten in
Afghanistan gestorben. Sollte
es der NATO nicht gelingen,
das Land zu stabilisieren, sei
das Risiko für den Westen
«enorm», sagte Richards.
«Gründlichkeit
ist viel wichtiger
als die Frage, ob
wir ein paar Ta-
ge länger ver-
handeln.»
Guido Westerwelle,
Vorsitzender der FDP
Köhler verleiht Schlägeropfer
Bundesverdienstkreuz
BERLIN – Drei Wochen nach seinem Tod
ist der von S-Bahn-Schlägern in München
getötete Dominik Brunner für seine Zivil-
courage mit dem Bundesverdienstkreuz aus-
gezeichnet worden. Bundespräsident Horst
Köhler selbst überreichte es den Eltern des
Getöteten, wie Köhlers Sprecher Martin Ko-
thé am Sonntag mitteilte. Der gewaltsame
Tod des 50-Jährigen auf dem S-Bahnhof in
München-Solln am 12. September hatte
bundesweit Bestürzung ausgelöst. Zwei jun-
ge Männer im Alter von 17 und 18 Jahren
hatten Brunner mit mehr als 20 Faustschlä-
gen und Fusstritten umgebracht. Das Opfer
hatte zuvor vier Schüler vor einem Raub-
überfall der beiden Täter schützen wollen.
Berlusconis Fininvest muss
Konkurrenten 750 Mio. zahlen
ROM – Im jahrzehntelangen Streit um die
Kontrolle des italienischen Verlagshauses
Mondadori hat ein Zivilgericht in Mailand
den Konzern von Ministerpräsident Silvio
Berlusconi am Samstag zur Zahlung von
rund 750 Mio. Euro an die Holding seines
Erzrivalen Carlo de Benedetti verurteilt.
Das Geld soll nach Angaben der italie-
nischen Nachrichtenagen-
tur ANSA Benedettis CIR
für ein Gerichtsurteil aus
dem Jahr 1991 entschädi-
gen, mit dem Berlusconis
Fininvest die Kontrolle
über Mondadori erhielt.
Ein Strafgericht hatte Jahre später geurteilt,
dass der damalige Richterspruch «gekauft»
worden war – Berlusconi wurde wegen Ver-
jährung jedoch nie dafür belangt.
700 Nackte in Weinberg
warnen vor Klimawandel
PARIS – Etwa 700 Nackte haben im Bur-
gund auf die Auswirkungen des Klimawan-
dels aufmerksam gemacht. «Wenn wir jetzt
nicht handeln, dann sind die Menschheit und
das kulturelle Erbe gefährdet», betonte Pas-
cal Husting von Greenpeace France am
Samstag. Die Umweltorganisation hatte gut
zwei Monate vor dem Klimagipfel in Ko-
penhagen gemeinsam mit dem US-Foto-
grafen Spencer Tunick zu der Aktion in
einem Weinfeld bei Mâcon aufgerufen.
«Zum Glück war das Wetter hervorragend»,
sagte eine Greenpeace-Sprecherin. Die Teil-
nehmer seien aus ganz Frankreich angereist,
einige sogar aus dem Ausland. Auf einem
der Fotos halten sie leere Weinflaschen mit
dem Hals nach unten in die Luft. NACHRICHTEN