Volltext: Liechtensteiner Volksblatt (2005)

DIENSTAG, 16. AUGUST 2005 
blâTI INLAND 
5 PREDIGT DES ERZBISCHOFS Die Grundfrage unseres Lebens: Wozu sind wir hier? VADUZ - In seiner Predigt zur Messfeier auf der Schlosswiese in Vaduz setzte sich Erzblschof Wolfgang Haas mit der Frage «wozu sind wir hier?» auseinander. Nachstehend einige Auszüge aus der Predigt. Wir begehen den liechtensteinischen Staats­ feiertag - und dies am kirchlichen Hochfest der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel. Die Frage «Warum sind wir hier?» ist also schnell und leicht zu beantworten. Viel subtiler ist hingegen nur schon die Frage «Wozu sind wir hier?» und wohl noch subti­ ler und gleichzeitig provokant ist die Antwort auf diese Frage. Kreuz nicht mehr im Mittelpunkt... Unsere Welt dreht sich hierzulande - so müssen wir wohl ehrlicherweise zugeben - schon länger nicht mehr um das Kreuz als Mittelpunkt, also um das Geheimnis der Erlö­ sung durch den Gottessohn Jesus Christus, den uns Maria geboren hat. dem sie treu bis unter das Kreuz nachfolgte und der sie mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen hat - als einzige von allen Menschen. Zur Feier eben dieses Glaubensgeheimnisses und zur freudvollen Anerkennung dieser Glaubens­ tatsache aber sind wir hier zur heiligen Messe zusammengekommen. Wenn dem nicht so sein sollte, dann müssten wir uns in der Tat die Frage gefallen lassen: «Wozu sind wir ei­ gentlich hier.'» Um ein blosses Brauchtum zu pflegen, um ein bisschen Tradition hochleben zu lassen und um eine angeblich noch vor­ handene Verwurzelung in der Geschichte und Kultur einer christlichen Vergangenheit zu demonstrieren, müssen wir wahrlich nicht hier sein. «Um Gott zu eriunnen» Das Hochfest der leiblichen Aufnahme Ma­ riens in den Himmel nimmt uns hinein in das Geheimnis der Vollendung unseres Erlöst­ seins; denn die Erlangung der himmlischen Herrlichkeit, in welche die Gottesmutter be­ reits mit Leih und Seele gelangt ist. ist das Ziel unseres irdischen Pilgerweges, das wir nicht aus dem Auge verlieren dürfen und das wir vor allem anderen anstreben sollen. Es genügt also keinesfalls, nur nach einer Opti­ mierung unserer materiellen Lebensverhält­ nisse zu trachten; es genügt schon gar nicht, der Illusion eines irdischen Paradieses /u hul­ digen; es genügt überhaupt nicht, von einer «besseren Welt» zu träumen. Das alles bleibt weil zurück hinter der eigentlichen Antwort auf die Grundfrage unseres Lebens: «Wozu sind wir hier?» - «Wo/.u sind wir hier auf Er­ den'.'» Die klassische Antwort auf diese Fra­ ge ist stets aktuell: «Wir sind auf Erden, um Gott zu erkennen, ihn zu lieben, ihm zu die­ nen und dadurch in den Himmel zu kommen. Um Gott in rechter Weise zu dienen, müssen wir glauben, die Gebote Gottes halten, die heiligen Sakramente empfangen und beten» (Katechismus). Und um diese klassische Ant­ wort geht es gerade auch heute, geht es in die­ ser Stunde, geht es an diesem Tag, da wir hier auf der Schlosswiese das eucharistische Op­ fer darbringen und Kommunion, also Ge­ meinschaft hallen mit dem. der gekommen ist, damit wir das Leben haben und es in Fül­ le haben (vgl. Joh 10,10). Erztrischof Wolfgang Haas gestern bei seiner Predigt auf der Schlosswiese. 
Fangnetz statt Hängematte Ansprache des Landtagspräsidenten Klaus Wanger am Staatsakt «Ich bin überzeugt, dass eine Erneuerung unseres Sozialstaates schnellstmöglich in Angriff zu nehmen ist»: Landtagsprüsident Klaus Wanger (FBP) gestern am Staatsakt auf der Schlosswiese. 
Mit dem In-Kraft-Treten der Al­ ters- und Hinterlassenenversiche- rung am I. Januar 1954 wurde die wichtigste Grundlage für unseren Sozialstaat geschaffen. Gegen gros­ sen Widerstand gelang es dem da­ maligen Regierungschef Alexander Frick, dieses segensreiche 
Sozial- Niveau übertrifft viele andere Länder werk zu verwirkliehen. In den fol­ genden Jahren ist unser Sozialsys­ tem schrittweise auf den heutigen Stand ausgebaut worden. Wahrend des wirtschaftlichen Aufschwungs in unserem Lande sind die Leistun­ gen auf ein Niveau angehoben wor­ den, das viele andere hoch entwi­ ckelte Länder übertrifft. Heute, in Zeiten zunehmender Arbeitslosigkeit und eines tief grei­ fenden gesellschaftlichen und wirt­ schaftlichen Wandels - Stichwort Globalisierung - steht die Sozial­ politik auch in unserem Lande auf dem Prüfstand. Der Ausbau des Sozialstaates Liechtenstein hat in den vergange­ nen zehn Jahren zu einer massiven Belastung des Staatshaushaltes 
ge- Massive Belastung des Staatshaushaltes führt. So sind die Staatsbeiträge an den Sozialstaat von 79 Millionen Schweizer Franken im Jahre 1995 auf IS 
1) Millionen Schweizer Fran­ ken im Jahre 2004 gestiegen, das heisst, in diesem Zeitraum erhöhten sich die Sozialleistungen pro Kopf der Bevölkerung von 2539 auf 5472 Franken pro Jahr. Dies bedeu­ tet ein stetiges Wachstum b/w. ei­ nen kontinuierlichen Ausbau unse­ res Sozialsystems. Von den insgesamt 25 verschie­ denen Zuwendungsarten, die unser Sozialsystem beinhaltet, verursa­ chen die Staatsbeiträge an die Krankenversicherung, an die 
Al- Ungewöhnlich starke Zunahme bei der IV ters- und Hinterlassenenversiche- rung, an die Invalidenversicherung und an die staatliche Unterstützung der Krankenhäuser einen Betrag von 138 Millionen Schweizer Fran­ ken. Somit werden fast drei Viertel aller Sozialleistungen für die drei Risiken - Alter, Krankheit und In­ validität - ausgeschüttet. Eine un­ gewöhnlich starke Zunahme von 76 Prozent verzeichneten in den ver­ gangenen vier Jahren die Staatsbei­ träge an die Invalidenversicherung. Sie betrugen im Jahre 2(X)4 26,X Millionen Schweizer Franken; dies entspricht einem Anteil von 14 Pro­ zent der gesamten staatlichen Sozi­ alleistungen. Der IV-Rentnerbe- stand stieg von 1191 Bezügern im Jahre 1997 auf 2062 Bezüger im Jahre 2004; daraus resultiert eine jährliche Zunahme von 124 Neu- Rentnern in dieser Zeitperiode. Al­ lein diese Entwicklung ruft nach Massnahmen, die nicht nur init ei­ ner Beitragserhöhung seitens der Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu lösen sind. Obwohl unsere Sozialversiche­ rungen auf einer eigenständigen liechtensteinischen Gesetzgebung beruhen, entsprechen sie in ihren Grundkonzepten schweizerischen 
Modellen. In vielen Bereichen sind jedoch in unserem Lande die Sozi­ alleistungen besser ausgebaut und die soziale Absicherung weitrei­ chender als in der Schweiz. So ge­ währt zum Beispiel unsere Alters­ und Hinterlassenenversicherung im Gegensatz, zur Schweiz ein Weih­ nachtsgeld in Form einer zusätz­ lichen vollen Monatsrente, eine at­ traktivere Gestaltung des Renten- vorbezugs sowie keine Rentenpla- fonierung. Der nach meiner Ansicht in den Jahren der Hochkonjunktur in eini­ gen Bereichen zu grosszügig aus­ gebaute Sozialstaat, muss nun vor dem Hintergrund der künftigen Fi­ nanzierbarkeit und der allgemeinen wirtschaftlichen Situation analy­ siert und durch zielgerichtete, sozi­ al verträgliche Massnahmen refor­ miert werden. Ich erachte es unter anderem als dringend notwendig, dass Ausschüttungen von 
Sozialleis- Zu grosszügig aus­ gebauter Sozialstaat tungen nach dem «Giesskannen- prinzip» durch zielgruppengerechte Zuwendungen ersetzt werden müs­ sen und die Zusammenarbeit und Koordination der verschiedenen Sozialversicherungen und sozialen Institutionen verbessert werden. Ich spreche mich somit nicht für einen generellen Abbau unserer So­ zialleistungen aus. Soziale Hilfe soll nach wie vor an jene Personen ausgeschüttet werden, die 
unzurei- Private initiative vor staatlicher Initiative chend zur Selbsthilfe fähig sind. Private Initiative muss jedoch wie­ der vermehrt Vorrang vor staat­ licher Initiative haben. Finanzielle Mittel seitens des Staates sollen vor allem dafür eingesetzt werden, um ihnen zu eigener Leistungsfähigkeit 
und grösstmöglicher Selbstständig­ keit zu verhelfen. Soziale Hilfe muss primär «Fangnetz» sein und darf nicht zur «Hängematte» werden. Sozialer Missbrauch muss geahndet werden, da er einen Vertrauensbruch 
gegen- «Fangnetz» und nicht «Hängematte» über der gesellschaftlichen Solida­ rität darstellt. Der Strukturwandel und die stän­ dig steigenden und sich verändern­ den Leistungsanforderungen im Berufsleben erfordern künftig nach wie vor einen hohen, gezielten Mitteleinsatz in unserem Bildungs­ bereich. Die Anhebung des Bildungsni­ veaus in unserem Lande wird künf­ tig noch an Bedeutung gewinnen, da Personen mit tiefem Bildungs­ niveau vermehrt zu Soziafempfan- gern werden. Bildung ist nicht nur die Voraussetzung für einen nach­ haltigen, qualifizierten wirtschaft­ lichen Aufschwung, sondern lang­ fristig auch ein wichtiger Pfeiler des sozialen Ausgleichs. Der «traditionelle» Generatio­ nenvertrag, auf dem unsere 
Alters- Kinder- und familien­ freundliches Umfeld und Hinterlassenenversicherung aulbaut, muss den absehbaren de­ mographischen Bedingungen ange- passt werden, um den finanziellen Ausgleich zwischen Jungen, Alten und der Erwerbsgeneration sicher­ zustellen. Dabei ist besonders ein kinder- und familienfreundliches Umfeld zu schaffen, das es Eltern erleichtert, sich für Kinder zu ent­ scheiden. Soziale Leistungen müssen künf­ tig vermehrt nach transparenten und als gerecht empfundenen Kri­ terien zugewiesen werden. Da nach 
vielen Jahren des wachsenden Wohlstandes in unserem Lande in weiten Teilen der Bevölkerung heu­ te die Voraussetzung für die Eigen­ vorsorge gegeben ist, sollten sozia­ le Leistungen seitens des Staates, wo es möglich ist, an zumutbare Eigenleistungen geknüpft werden. Ich bin überzeugt, dass eine Er­ neuerung unseres Sozialstaates schnellstmöglich in Angriff zu 
neh- Schnellstmöglich in Angriff nehmen men ist. Diese innovative Neuge­ staltung muss gleichermassen sozi­ al gerecht und wirtschaftlich effi­ zient sein. Sie muss sich den heuti­ gen und künftigen Anforderungen und Herausforderungen stellen, die sich aufgrund des gesellschaft­ lichen und wirtschaftlichen Wan­ dels ergeben. Entsprechende Leis- tungsanpassungen auf dem Gesetz­ weg werden erforderlich sein. Soziale Gerechtigkeit zu gewähr­ leisten ist eine schwierige 
Gratwan- Eine schwierige Gratwanderung derung, da gilt es, einerseits den Bedürfnissen und Erfordernissen nach sozialem Schutz und sozialem Ausgleich gerecht zu werden und andererseits die Wirtschaft und die im Erwerbsleben Stehenden nicht übermässig zu belasten. Diese Gratwanderung in einem äusserst sensiblen Bereich kann nuf gelin­ gen, wenn ein breiter Konsens von Politik, Wirtschaft und nicht zuletzt das Verständnis in der liechtenstei­ nischen Bevölkerung für eine Er­ neuerung gegeben ist. Ich bin zuversichtlich, dass es in gemeinsamer Anstrengung auf der Grundlage von Solidarität und Ge­ rechtigkeit gelingen wird, diese Re­ formen sozialverträglich und nach­ haltig erfolgreich zu verwirklichen. i 
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