Betrachtet man den Besizstand Tello's, so kann man sich eine
Vorstellung machen, von welcher Art die Güter und Rechte der
übrigen einheimischen Großen und Edeln gewesen, und bekommt zu
gleich ein günstiges Bild von dem Anbau Rätiens und die alten
Klosternachrichten von Disentis dürften sich erwahren, daß eine sehr-
besuchte Straße durch das Oberland über den Lukmanier gegangen
sei. Ucbrigens war nicht blos das Oberland, sondern auch die
andern Theile von Rätien, wie das Unterengadin, Domleschg, Wall
gau, das Rheinthal und Sarganserland wohl angebaut und bevölkert.
Ueberall im mehrerwähnten Testament des Bischofs Tello stoßen wir
auf romanische Namen, wo die Güterbesitzer und deren Anstößer
erwähnt werden, ein Beweis, daß sich die ursprüngliche Bevölkerung
unvermischt erhielt.
Auch auf die persönlichen Verhältnisse und Standesunterschiede,
wie sie damals in Rätien waren, läßt sich an der Hand jener Ur
kunde ein Schluß ziehen. Im Allgemeinen kann man die Einwohner
in zwei Hauptklaffen bringen, in Grundherrn, oder Grundeigen
thümer, und in Hintersassen. Zu den ersten gehörten die fränkischen
Könige, die Kirchen und Klöster, die Curialen und alle größeren oder-
kleineren Landeigner, welche in der römischen Geschäftssprache pos
sessores (d. i. Besitzende) hießen. Zur andern Klasse gehörten die
jenigen , welche kein Eigengut besaßen, sondern auf dem Grundeigen
thum der Könige, der Kirchen und Kloster, der Großen, der Curialen
und Edeln angesiedelt waren. Diese hießen Colonen, wenn sie per
sönlich frei waren, sonst Leibeigene (sorvi). Die Zahl der leztern
war, nach dem Testament zu schließen, verhältnißmäßig gering. Die
Colonen auf den Gütern der Könige, Klöster und Kirchen standen
besser, als die übrigen. Der Ausdruck servus d. i. Leibeigener kommt
nur einmal vor in Tello's Testament, dafür die seltsame Bezeichnung:
Spechatici, welche ich sonst nirgends getroffen habe; sie stammt
wahrscheinlich von dem Gute, das diese Leute bebauten, welches
8pecius oder 8picius hieß.
Das Frankenland ward gewöhnlich in Austrasien, welches die
deutschen Länder und Rätien umfaßte, in Neustrien, welches nach-
wärts den bleibenden Namen Frankreich bekam, und in Burgund
getheilt. Selten und nur vorübergehend waren diese Reiche unter
einem Haupte vereinigt, meist waren sie in Krieg und Hader mit
einander. Die unaufhörlichen Bürgerkriege erzeugten eine unglaubliche
Verwilderung und Sittenlosigkeit. Gregor, der fromme Bischof von
Tours, unterbricht sein Geschichtswerk über die Franken oft durch
bittere Klagen, daß er so greuelvolle Zeiten beschreiben müsse, wo
man ohne Scheu alle Bande der Natur, alle göttlichen und menschlichen
Gesetze mit Füßen trete. Die Burgen, sonst zur Sicherheit des Landes
erbaut, wurden Landplagen, die Räubereien der Edeln und Großen
machten alle Gegenden, alles Besizthum unsicher. Die Ritter nah
men den Armen das Brod und gaben es ihren Pferden.