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Adlers majestätische Kreise beachte sein
Blick. Vorbei an der Wettertanne, in hun
dert Gewittern hundertmal vom Blitz ge
troffen, vernarbt und verheilt und wieder
geschlagen, vorbei an den letzten verzwei
felten Föhren, zu Boden geduckt und den
noch nicht mutlos, vorbei am letzten Büschel
Alpenrosen führt ihn sein Weg. Dann erst
nimmt ihn der Berg auf, führt ihn höher
über die Grate, dräut ihm mit blanken Wän
den und trügerischen Gesimsen. Wo jeder
gelockerte Stein mit rasselndem Gepolter
und kaum noch vernehmlichem Aufschlag
eine Ahnung davon vermittelt, was hier ein
Fehlgriff bedeutet.
Auf dem Gipfel aber lohnt sich die Mühe.
Nebelfetzen kriechen über den Grat, einen
Hauch von Schnee mit sich führend. Einsam
steht der Mensch zwischen Wolken und fern
allen Lärms. Nur von der Tiefe des Tales,
wo zikadengleich Tiere sich rühren, klingt
kaum vernehmliches Läuten. Die Stille aber
dort oben wird dadurch nur noch viel tiefer.
Sobald das Klopfen des Herzens nachläßt
und ruhig wird, sobald der hastige Atem in
ruhige Züge sich wandelt. Jetzt endlich faßt
das Auge das grandiose Bild der unermeß
lichen Weite der silberstrahlenden Gipfel,
der Türme und Riesen. Vor ihm reiht sich
eine Schar majestätischer Giganten, bis zum
blauen Horizont in ewiges Schweigen ver
sunken. Täler, die Städte bergen, Länder,
die Tausende nähren, hier sind sie nur Rin
nen zwischen Kolossen. Zu Füßen der
schmale grüne Streif mit dem silberschim
mernden Band, das ist das Rheintal, die
Heimat. Die rötlich-grau flimmernden Flek-
ken in etwas dunklerem Grün, das sind die
Dörfer, zum Teil versteckt hinter Bäumen.
Die Ameisenweglein quer über den Platz,
das sind die Wege und Straßen, auf denen
sich unser Leben, unser Sorgen und Treiben
abspielt. Wenn nun der Beschauer dort oben
zu stiller Versunkenheit neigt, so sei sein
erster Dank dem Himmel dafür, daß dies
seine Heimat ist.