147
IO
FÜRST, VOLK UND STAAT
Dr. Gregor Sieger
I.
Wie Liechtensteins Staatswerdung ein Son
derfall darstellt, so auch die Erlangung
seiner Souveränität. Der Berührungs- und
Schnittpunkt ist das Zusammentreffen
zweier an sich völlig getrennter — räumlich
und herkommensmäßig — Entwicklungs
reihen, die im geschichtlichen Ablauf als
staatsbildende Kräfte wirkten.
Die Formulierung „Im Anfang war der
Fürst“ ist insofern richtig, als die Liechten
steiner bereits ioo Jahre früher, als sie mit
der Herrschaft Schellenberg und der Graf
schaft Vaduz auf der geschichtlichen Szene
erscheinen, den Fürstentitel trugen. Das
Wesentliche bei der Erwerbung der beiden
Herrschaften — Schellenberg und Vaduz —
am Oberrhein war nicht der Wille des Für
sten, sich einen eigenen Staat zu schaffen und
in diesem Staat zu herrschen, als durch diese
beiden Territorien die Voraussetzungen für
den Eintritt des Fürstenhauses ins Reichs
fürstenkollegium zu ermöglichen. Liechten
steins Staatswerdung ist insofern eigenartig,
als das neue Staatswesen weder durch krie
gerische Ereignisse, noch durch Loslösung
von oder Vereinigung mit einem anderen
Staate entstand. Rechtlich ist bereits seit
dem 23. Januar 1719 Liechtensteins Exi
stenz unbestreitbar, wenn ihm auch — es
war Mitglied eines Staatenbundes — die
Souveränität fehlte. Staatsgebiet, Staatsvolk
und eine Staatsgewalt sind vorhanden. Die
Lage des Staatsgebietes an der Peripherie
des Reiches, an der Grenze zwischen Öster
reich und der Schweiz, vermehrt die Chan
cen seiner Erhaltung. Das Staatsvolk —
wenn auch nicht durch seinen unmittelbaren
Willen dieses Staatswesen schaffend — spiel
te nicht nur lediglich eine passive Rolle. Die
Bildung des Staates „vollzog sich ohne Mit
wirkung nationaler Gegebenheiten und po
litischer Konsequenzen, ohne daß aus einer
natürlichen inneren Notwendigkeit heraus
dieses Volk infolge seiner stämmischen,
sprachlichen, wirtschaftlichen, geistigen An
lagen und Eigentümlichkeiten zur geschicht
lichen Tat der Volksorganisation getrieben
worden wäre" (Zurlinden).