innerstaatlich nicht legitimiert war, ist der Staat dennoch an den Vertrag gebunden,
sofern diese Verletzung nicht offenkundig war und dem Vertragspartner hätte
auffallen müssen. Dazu Art. 46 Abs. 2 WVK: „Eine Verletzung ist offenkundig, wenn
sie für jeden Staat, der sich hierbei im Einklang mit der allgemeinen Übung und nach
Treu und Glauben verhält, objektiv erkennbar ist.“ Auch diese Bestimmung findet bei
der vorläufigen Anwendung von vólkerrechtlichen Vertrágen Anwendung. ??^
Begründet wurde die Anwendung dieser Bestimmung auf das Rechtsinstitut der
vorläufigen Anwendung zu Recht mit dem Argument der Rechtssicherheit.” Denn
auf der Grundlage der Rechtssicherheit wurde Art. 46 WVK geschaffen, um die
Hindernisse der Re/evanztheorie zu überwinden. Nach der (vereinfacht ausgedrückt)
jeder Vertragspartner beim Abschluss eines vólkerrechtlichen Vertrages auch die
Kompetenznormen der anderen Vertragspartner berücksichtigen müsste. Dem
gegenüber hätte ein Verstoss gegen innerstaatliche Kompetenznormen gem. der
Irrelevanztheorie keinerlei Auswirkung im vólkerrechtlichen Bereich. Art. 46 WVK
schafft mit der Kodifikation der Evidenztheorie also einen Mittelweg der beiden
Extreme. Wie schon vorhin beschrieben kann, eine Vertragsverletzung nur dann mit
einem Verstoss der innerstaatlichen Kompetenznormen begründet werden, wenn
dieser offenkundig war.*?? Die Nichtanwendung des Art. 46 WVK bei der vorláufigen
Anwendung würde in diesem Bereich somit die Rückkehr zur Relevanztheorie
bedeuten. Staaten mit einer weiten Formulierung zur Genehmigungspflicht von
vólkerrechtlichen Vertrágen (wie dies z.B. in Liechtenstein der Fall ist??"), durch die
Parlamente kónnten einen wesentlichen Vorteil daraus ziehen. Staaten, in denen die
Genehmigungspflicht durch die Parlamente aber nur selten wahrgenommen wird und
dementsprechend der Exekutive dadurch mehr Kompetenz eingeráumt wird, kónnten
vom Vorteil der Relevanztheorie nicht so sehr profitieren. Unter diesem
Gesichtspunkt scheint es nur sinnvoll, auch Art. 46 WVK für die vorläufige
Anwendung gelten zu lassen. “*®
Die möglichen völkerrechtlichen Konsequenzen einer verfassungswidrigen
vorläufigen Anwendung werden weiter unten in Kapitel 4.4.3 behandelt.
324 ygl. dazu sehr ausführlich Montag, vorl. Anwendung, 1986, S. 74ff.
95 ygl. Montag, vorl. Anwendung, 1986, S. 80.
32° ugl. Heintschel von Heinegg, Quellen, 2014, S. 444f.
"7 Siehe dazu weiter oben die Ausführungen zu Art. 8 LV in Kapitel 3.4.
329 ygl. Montag, vorl. Anwendung, 1986, S. 78.
65