Welchen Stellenwert haben dabei systemische Besonderheiten (Geschichte, Traditionen,
Ressourcen,...)?
Das Forschungsfeld weisst durchaus spezifische Eigenschaften auf, die bei der Adaptierung
von Erkenntnissen der Schulentwicklungsforschung zu berücksichtigen sind. Dazu gehört
insbesondere die soziale und geografische Überschaubarkeit des Landes und damit auch
des Schulwesens. Das gesamte liechtensteinische Schulwesen ist in seiner Dimension ver-
gleichbar mit kleineren Verwaltungseinheiten mittelgrosser Städte. Das Gewicht und die Ge-
staltungsmöglichkeiten einzelner Akteure sind entsprechend gross, die Wege zwischen den
Instanzen kurz, die sozialen Hierarchien eher flach. Im Schulwesen hat das Bottom-up-
Prinzip Tradition; dies geht spátestens aus der zeitgeschichtlichen Betrachtung der Schul-
entwicklung hervor. Lehrerinnen und Lehrer leisteten massgebliche Beitráge zur Entwicklung
des Schulwesens - in Lehrerlnnenvereinen, Kommissionen und Arbeitsgruppen bestimmten
sie die Ausrichtung der Schulentwicklung mit. Damit war eigentlich — ohne wissenschaftliche
Begründung — einem wichtigen Postulat der Schulentwicklungstheorie schon weitgehend
Rechnung getragen: Partizipation (vergl. Kapitel 3.3.6.: Altrichter & Helm 2011, Rolff 2007,
Wenzel 2008). Für Schlee (2014) ist das Bottom-up-Prinzip ohnehin unabdingbar.
Der Stellenwert dieser Besonderheiten wird u.a. deutlich, wenn daran gerüttelt wird: Die Er-
gebnisse der Onlinebefragung lassen klar erkennen, dass die Implementierung des neuen
Schulleitungskonzeptes (noch?) mit Unbehagen verbunden ist, nicht nur weil es — so die
Hypothese - als Bruch mit o.a. Traditionen wahrgenommen wird, sondern weil dieser Bruch
mit einer Zielsetzung begründet wird, die im Kleinstaat naturgemáss ja schon erreicht ist.
Im Hinblick auf die weitere Forschungsfrage — nach dem Einfluss der Schulentwicklungsfor-
schung auf Reformen im Forschungsfeld — ist also zu beachten, dass die Adaptierung globa-
ler Standards behutsam vorgenommen werden muss, um deren ,Anschlussfáhigkeit" (vergl.
Luhmann 1984) an die „Codierung“ des liechtensteinischen Systems zu gewährleisten. Vor-
weg sollte jeweils auch geprüft werden, ob der Zweck der einen oder andere Adaption nicht
schon in anderer Ausformung erzielt worden ist. Andernfalls besteht die Gefahr, dass mit
dem Begriff Schulentwicklung eher administrative, formelle und von aussen daherkommende
Änderungen assoziiert werden, denen dann folgerichtig eher mit Coping- als mit Adapting-
Strategien begegnet wird.
Fakt ist, dass — jedenfalls auf der „Makroebene“ Schulverwaltung — in Liechtenstein Schul-
entwicklungsforschung antizipiert wird; dies geht in einem besonders klaren Beispiel aus der
Beschreibung des Leitfaden Qualitätssicherung und -entwicklung des Schulamtes hervor, in
dem sich die in der Schulentwicklungsforschung gängigen Begriffe und Instrumente lehr-
buchmässig (insbes. der Autoren Rolff, Holtappels und Fend) abbilden. (vergl. Kapitel 5.6.)
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