6.9 Exkurs: Alternative Sichten
In der vorliegenden Arbeit wurde der Fall „Liechtenstein und die deutsche Steueraffáre" mit
dem im Rahmen des Agenda Setting-Ansatzes von Eichhorn aufgestellten Modell der
gesellschaftlichen Themenstrukturierung analysiert, um die hinter dem Fall stehenden
Einflussprozesse, Strukturen und Akteure aus Kommunikationssicht aufzuzeigen. Das Modell
hat sich als gut geeignet erwiesen, weil es einen umfassenden Ansatz zur Beantwortung der
gestellten Fragen nach Akteuren, Themenstrukturierung und Einflussprozessen bietet.
Eine der gestellten Fragen wird mit diesem Modell jedoch nicht vollständig beantwortet: Wie
erklärt sich das Timing des Ausbruchs der so genannten Steueraffäre? Wie in der Einleitung
erwähnt, lagen die LGT-Daten seit eineinhalb Jahren bei deutschen Behörden.
Mit Hilfe des Eichhorn-Modells haben wir die Akteure im vorliegenden Fall identifiziert, die
einzelnen Issues und die Themenstrukturen herausgefiltert und die Einflussprozesse aufge-
zeigt. Wir haben keinen hinreichenden Aufschluss über die Frage des Timings, also des Zeit-
punktes der Zumwinkel-Inszenierung, erhalten. Die Erklärung nach Eichhorn wäre, dass das
„Fass zum Überlaufen“ gekommen ist, d.h. aufgrund interessenpolitischer Verwerfungen zwi-
schen den politischen Akteuren in Deutschland kam es zum „Ausbruch“ von latent
vorhandenen ungelösten Meinungsverschiedenheiten und damit verbundenen Emotionen, wie
,Steuerwettbewerb vs. Steuerharmonisierung" (s. dazu auch Kapitel 6.6.1) oder „deutsche
Staatsbürger, die in Liechtenstein dem deutschen Fiskus nicht gemeldetes Geld veranlagen®.
Nach Meinung der Autorin ist dies eine noch nicht alles erklárende Begründung.
Die involvierten Akteure agieren in verschiedenen Arenen. Arenen sind bekanntlich Orte, an
denen gekämpft wird und die Akteure ihre Kräfte messen oder - im übertragenen Sinn - ihre
Interessen durchzusetzen versuchen. Akteure in der Gesellschaft agieren schon aufgrund der
unterschiedlichen Rollen, die sie im sozialen Gefüge einnehmen, in unterschiedlichen Arenen.
Dies gilt umso mehr für Akteure, die im internationalen Umfeld tätig sınd. Wenn wir versuch-
ten diese Tatsache in einem Bild darzustellen, käme die Komplexität derselben in Form von
,Unübersichtlichkeit“ zum Ausdruck.
Der Zusammenhang zwischen den unterschiedlichen Akteuren in den unterschiedlichen
Arenen und dem Zeitpunkt ihres Handelns lässt sich moglicherweise mit dem so genannten
garbage can-model oder Mülleimer-Modell erkláren. Das garbage can-model beschreibt das
Entscheidungsverhalten von Organisationen und wurde erstmals von Michael Cohen, James
March und Johan P. Olsen 1972 formuliert. Es funktioniert nach einem ebenso einfachen wie
komplexen Prinzip: Akteure, Probleme, Lösungen und Möglichkeiten werden in einen
Mülleimer geworfen. Das dann „zufällige“ Aufeinandertreffen von passenden Elementen setzt
einen Prozess in Gang, der dann schließlich in eine Entscheidung mündet (vgl. Eichhorn
2005, 151).
Die Anwendung dieses Modells käme jenen politischen Beobachtern entgegen, die meinen,
dass die Vorgänge rund um den 14. Februar und danach reiner Zufall waren. Wahrscheinlich
war es Zufall, dass die medienwirksame Hausdurchsuchung bei Klaus Zumwinkel am 14.
Februar, dem ,, Valentinstag", Geburtstag von Fürst Hans-Adam II, dem Staatsoberhaupt des
Fürstentums Liechtenstein, stattfand, und dass just an diesem Tag das Projekt FUTURO, eine
Vision für den Wirtschafts- und Finanzstandort Liechtenstein, vorgestellt wurde. Aber war es
tatsáchlich Zufall, dass sich der Auftakt der Steueraffáre eine Woche vor dem lange geplanten
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