5
I. Abschnitt.
Allgemeine Ausführungen über Sozial
versicherung.
Ziele, Mittel und Erfolge.
Sozialversicherung und Armenfürsorge.
1. Allgemeine Erläuterungen.
Das Gedeihen eines Staatswesens hängt ab
vom Wohlergehen seiner Glieder, der einzelnen
Siaatsbürger. Dieses wiederum ist normaler
weise bedingt durch die staatlichen Einrichtun
gen einerseits, die persönlichen Verhältnisse an
derseits. Diese engen Wechselwirkungen werden
umso augenfälliger, je höher entwickelt ein
Staarengebilde ist. Aber auch die Störungen in
diesem Netz sind uinso tiefer, fe feiner und viel
fältiger die Maschen sind. Für die Persönlichen
Verhältnisse des größten Teils aller Glieder
des modernen Staates spielt die Persönliche
Arbeitskraft im allgemeinsten Sinne, die ihrer
seits durch die Lebensenergie bedingt ist, die
größte Rolle. Jede Verringerung, noch viel
mehr aber das Aufhören dieser Kraft, hat eine
sofortige Störung des Persönlichen Wohlerge
hens, der Existenz des Individuums und der
aus ihnen gebildeten Gemeinschaften (Familie,
Gemeinde, Staat) zur Folge. Ter menschliche
Geist hat aber ein Mittel gefunden, um die
Folgen solcher, den Gesetzen des Zufalls fol
genden Einzel-Störungen zu beheben oder be
deutend abzuschwächen: Dieses Mittel heißt
Versicherung, speziell Personenversicherung.
Durch letztere wird bewirkt, daß die notwendi
gen Existenzmittel für den durch Störung
(Minderung und Verlust) der Arbeitskraft des
Individuums entstehenden Bedarf planmäßig
bereitgestellt werden, entweder durch das In
dividuum selbst oder unter Beihülfe eines
Tritten oder des Staates selbst, immer aber
unter Heranziehung einer geeigneten Einrich
tung, welche Versicherungsträger heißt. Erfolgt
diese Bereitstellung der Mittel für die Folgen
der künftigen Störungen der Arbeitskraft auf
Veranlassung des Staates hin, d. h. nicht aus
dem Belieben des einzelnen heraus, sondern
zwangsweise für einen Teil oder' den ganzen
Umfang der Glieder des Staates, so hat man
das vor sich, was man unter dem Sammel
namen „Sozialversicherung" begreift.
Krankheit, Unfall. Tod, Invalidität, Alter,
sie alle bedeuten Störungen der Arbeitskraft,
sie alle haben die Minderung oder den Verlust
der Arbeitskraft und damit der Existenzmittel
zur Folge. Aber noch sind andere Störungen
zu nennen, bei den Frauen die Schwangerschaft
und das Wochenbett, bei den Erwerbstätigen
im eigentlichen Sinne die Arbeitslosigkeit.
Nicht zu vergessen ist der Krieg, der nicht nur
einzelne Glieder, sondern alle, den Staat selbst,
aus den normalen Bahnen hinauswirft und
einen großen Teil der „Einzelwirtschaften" ins
Verderben zieht. Schließt aber ein Staat den
Krieg und seine Folgen als versichertes Ereig
nis in seine Sozialversicherung ein, so betreibt
er damit nichts anderes alz eine Rüstung zum
Krieg; er entzieht der Wirtschaft Mittel für
die Deckung eines Bedarfes, den die moderne
Menschheitsbewegung durch völkerumfafsendc
Einrichtungen aus dem Bereich der Möglichkeit
schaffen will. Sozialversicherung und Krieg sind
zwei Kräften vergleichbar, die einander ent
gegenwirken.
2. Ziele, Mittel und Erfolge.
Kehren wir uns ab vom Krieg, dem Zer
störer zahlreicher Einzelwirtschaften. Wenden
wir uns der Sozialversicherung zu, jener un
gemein segensreichen Einrichtung, die allein
für die Zukunft einen namhaften Fortschritt
bedeutet. Welches sind ihre Ziele, welches ihre
Mittel, welches ihre Erfolge?
Die Ziele lassen sich einem einzigen unter
ordnen: es ist die Erhaltung und Förderung
der Volkswohlfahrt durch wirtschaftlichen
Schuh des Schwachen! Ter Kranke, der Ver
unglückte, der Arbeitsunfähige (Invalide oder
Alte), der Arbeirslose, sie alle bedürfen des
Staates; aber auch die Witwen, die Waisen
wollen geschützt sein, wollen ein schützendes
Dach, ein tägliches Brot. Neben finanzieller
Hülfe (Auszählung einer einmaligen Summe
oder einer Rente) sollen die Kranken und Ar
beitsunfähigen auch Pflege, ärztliche Behand
lung und Versorgung in Anstalten erhalten.
Das Mittel, zum Ziel zu gelangen, besteht
in der tatkräftigen Mithülfe aller Volksteile.
Nicht nach Willkür, sondern nach streng recht
lichen Grundsätzen soll anderseits das Gewäh
ren der „Versicherungsleistungen" erfolgen.
Damit ist schon gesagt, in welcher Beziehung
sich die Versicherung von der Armenfürsorge