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III. Abschnitt.
Die Durchführung der Sozialversicherung
im Fürstentum Liechtenstein.
Es war natürlich kein leichtes Unterfangen,
die diesbezüglichen Verhältnisse im Fürstentum
Liechtenstein nur an Hand des dem Experten
am 7. Februar 1922 zur Verfügung gestellten
Materials zu beurteilen; er möchte daher schon
einleitend um milde Beurteilung der offenbar
lückenhaften Darstellung bitten. In den nach
folgenden Ausführungen stützte sich der Experte
im wesentlichen auch auf den Aufsah von Karl
& In der Maur, Verfassung und Verwaltung
im Fürstentum Liechtenstein (Wien, Alfred
Hölder-Verlag, 1907)..
1. Bestehende Anfänge von Sozial
versicherung.
Für gewisse Teile der liechtensteinischen Be
völkerung ist die Frage der Sozialversicherung
schon nahezu gelöst, nämlich für die mit Gehalt
bleibend angestellten öffentlichen ■ Beamten
und Diener sowie ftir die Lehrpersonen und
ihre Hinterbliebenen. Die Bezugs- und Pen
sionsverhältnisse der erstem sind durch zwei
Gesetze (18. Dezember 1878 und 3. Juli 1899)
geregelt. Die Ruhegenüsse der Lehrpersonen
und ihrer Hinterbliebenen werden aus den Er
trägnissen des „Schulfonds" bestritten, zu wel
chem die pensionsberechtigten Lehrer Beiträge
zu leisten haben.
Näher auf das freiwillige Sterbekassen-
und Krankenkassenwesen einzutreten, ist dem
Experten nicht möglich. Wohl weiß er, dasi —
ähnlich wie im benachbarten Kanton St. Gal
len — Sterbevereine und Krankenunterstüy-
ungsvereine im Fürstentum bestehen; diese
Tatsache ist jedoch für die Beurteilung der zu
künftigen Gestaltung der Sozialversicherung im
Fürstentum von untergeordneter Bedeutung.
2. Das Armenwesen in Liechtenstein.
Die Armenpflege wird in den einzelnen
Gemeinden gemäß Gesetz vom 20. Oktober
1869 unter Aufsicht der Regierung vom stän
digen Gemeinderate versehen, der die laufen
den Geschäfte durch einen Armenpfleger besor
gen läßt. Außer dem von der Landesbehörde
nach Vorschrift des Gesetzes vom 29. Oktober
1900 verwalteten Landesarmenfonds, aus des
sen Zinsen die Gemeinden jährlich nach Ver
hältnis der Seelenzahl Subventionen erhalten,
besteht seit 1887 nach der vom Landesfürsten
Johann II. ins Leben gerufene Landeswohl
tätigkeitsfonds, dessen Erträgnisse solchen Hu
manitätszwecken dienen, welche über den Nah
men der gewöhnlichen Gemeinde-Armenpflege
hinausgehen, insbesondere zur Unterbringung
von Waisen, Irren, Schwachsinnigen, Taub
stummen und Blinden in entsprechenden An
stalten, zu Stipendien für Erlernung von
Handwerken, zu Kurkosten u. dgl. Bezüglich
Pflege und ärztlicher Behandlung von erkrank
ten Armen wurde durch die Verfügungen vom
12. Noveniber 1873 und.25. August 1892 die
nötige Vorsorge getroffen.
Tie Aufsicht über die Kranken- und Armen
anstalten in gesundheitlicher Hinsicht führt der
Landesphysikus.
3. Die Notwendigkeit der Sozial
versicherung.
Die bestehenden Einrichtungen in Liechten
stein genügen nicht, um die Sozialversicherung
zu ersetzen. Das Armenwejen ist allerdings gut
geordnet. Aber wie bereits im allgemeinen Teil
unseres Berichtes ausgeführt wurde, kann die
Armenfürsorge die Versicherung nicht wettma
chen. Wie in vielen andern Staaten besteht
auch in Liechtenstein die Bestimmung, daß
Personen, die eine Armenunterstützung genie
ßen, kein Stimmrecht besitzen. Damit wird der
entehrende Charakter der Armenunterstützung
recht eigentlich unterstrichen; das Almosen-
Nehmen des Armen stempelt ihn zum Bettler,
trotzdem die Armenfürsorge gesetzlich geregelt
ist und trotzdem durch die Wechselfälle des Le
bens der wohlhabendste Staatsbürger unter
Umständen ohne -eigenes Verschulden in bit
terste Armut herabsinken kann.
Durch die ungeheuren wirtschaftlichen Schä
digungen des Weltkrieges ist das Erwerbs
leben für jeden einzelnen in allen Staaten un
gleich schwerer geworden als vor dem Krieg.
Tie enorme Teuerung aller wichtigsten Be
darfsartikel macht den durch Krankheit, Unfall,
'Alter oder Tod des Ernährers bedingten Weg
fall des täglichen Erwerbs doppelt verhängnis
voll, jetzt die Betroffenen trotz der Mildtätig-
keit anderer Menschen dem bittersten Elend
aus. Nie stärker als jetzt fällt allen verantwort
lichen Behörden unb Regierungsorganen die
Pflicht ins Herz, alle Volksklassen zum Spa
ren, zum Sammeln von Notpfennigen anzu
halten; nie lastete die Verantwortung größer
auf den Schultern der Regierungen, die wis
sentlich oder aus Schwachheit die Sozialver
sicherung nicht, an die Hand nahmen. Ver
gessen wir nicht, daß jeder Zeitverlust auch
den Verlust großer finanzieller Mittel be-