Nicht weniger problematisch ist die (Rechts-)Lage aus der
Sicht des Verfahrens; wie Art. 104 Abs. 2 erster Satz LV operativ
werden soll, ist ungewiss: Soll der Staatsgerichtshof — z.B. im Rah-
men einer ,Geltungsprüfung 3564 i.S.v. SEGH 1993/18 und 1993/19 —
in Zukunft in jedem Falle dazu gezwungen sein, die Verfassungsmá-
ssigkeit eines vólkerrechtlichen Vertrages als eine Vorfrage (als eine
,Vorabentscheidung') zu überprüfen? Von Amtes wegen oder nur
auf Antrag? Was gilt, wird ein vólkerrechtlicher Vertrag von ihm als
mit der LV vereinbar befunden? Geht er dem Landesrecht in diesem
Falle vor? Und wie stellt sich Art. 104 Abs. 2 erster Satz LV zu jenen
Problemen (Verfahrensfragen), zu denen schon StGH 1998/61 ge-
führt hat?565? Wie steht es vor allem mit dem Vorlageverhalten der
Anderen Gerichte3566?
Eine Antwort auf diese Fragen wird unter anderem der Total-
revision des StGHG obliegen, die von der Regierung im Frühsommer
2003 angekündigt worden ist; bis zu diesem Zeitpunkt kann nur auf
das Konflikt- und Komplikationspotential von Art. 104 Abs. 2 erster
Satz LV hingewiesen werden. Aber auch ohne den Inhalt der (Ge-
setzgebungs-)Pläne der Regierung zu kennen, steht heute schon fest,
dass die Fundamente des Verhältnisses zwischen dem Völkerver-
trags- und dem Landesrecht durch diese Bestimmung umgewälzt
werden: Die vom Staatsgerichtshof in seiner Praxis aufgestellten
Grundsätze des Rangverhältnisses zwischen diesen beiden Rechts-
ordnungen werden durch die Verfassung vom 16. März 2003 ebenso
negiert wie jener des Vorrangprinzips?967 ,
Art. 104 Abs. 2 erster Satz LV, der sehr viel weiter geht als das
neue StGHG oder als StGH 1998/61968, ist in seiner Handhabung
ist, macht eine Unterscheidung im Sinne Winklers weder nach juristischem Sach- noch nach
gesundem Menschenverstand Sinn und ist — dementsprechend — abzulehnen. Einen landes-
rechtlichen neben einem völkerrechtlichen Geltungsgrund völkerrechtlicher Verträge kann es
in der Lehre des Dualismus’ geben, nicht jedoch in der liechtensteinischen Verfassungsord-
nung, die der Lehre des Monismus' verschrieben ist. Umso bedauerlicher ist es, dass sich die
Regierung — mit dem Ziel einer Anpassung der Verfassungsánderungsvorschlàge S.D. des
Landesfürsten vom 2. August 2002 an die Vorgaben der Art. 26 und 27 WVRK — dem Modell
Winklers einer Aufspaltung des Geltungsgrundes vólkerrechtlicher Vertráge in einen vólker-
und in einen landesrechtlichen anzunáhem scheint; siehe hierzu die Regierung (Schreiben
vom 22. Oktober 2002) S. 3ff.
3564 StGH 1993/18 und 1993/19, LES 2/1994 S. 58.
3565 Siehe hierzu das 25. Kapitel Pkt. 3.1.5.
3566 Siehe hierzu das 19. Kapitel Pkt. 3.3 sowie das 25. Kapitel Pkt. 3.1.6.
3567 Siehe hierzu das 14. Kapitel Pkt. 4.1.1. Beide Vorgánge sind — in ihrem Ergebnis — dem
Verfasser von S.D. dem Landestürsten mit einem Schreiben vom 4. Februar 2003 bestátigt
worden; siehe hierzu das 26. Kapitel Pkt. 2.2.
3568 Im Unterschied zu dem Erkenntnis des Staatsgerichtshofes in StGH 1998/61, das sich auf ein
,Kemgehalts'-Konzept beschránkt, kann Art. 104 Abs. 2 erster Satz LV nicht anders verstan-
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