2.3.1.1
Fällen einer Abweichung von (an sich) klaren und eindeutigen Vor-
gaben in Form von ebensolchem Gesetzes- oder Richterrecht zum
Zuge kommen kann: Auch in diesen Fällen kann dem betreffenden
öffentlichen Rechtsträger dann weder Widerrechtlichkeit noch Ver-
schulden zur Last gelegt werden, wenn er nur sorgfältig vorgegan-
gen ist und wenn er seine ,Rechtsauffassung/ bzw. ,Rechtsansicht'
nur mit Erwágungen begründen kann, deren Qualitát diesem Gebot
entspricht. Fállt das Vorgehen des óffentlichen Rechtstrágers in eine
dieser Kategorien, kann ihm also nach Lage der Dinge ein sorgfiltiges
Verhalten unterstellt werden, wird seine Position unter dem AHG
auch dann geschiitzt, wenn sie von geltendem Gesetzes- oder
Richterrecht abweicht.
Der Vertretbarkeitsvorbehalt nach Massgabe der Praxis des OGH
Auch wenn sie in ihrem Ergebnis sowohl die Widerrechtlichkeit als
auch das Verschulden als Amtshaftungsvoraussetzungen aus-
schliesst, liegt der Akzent der vom OGH geschaffenen ‚Befreiungs-
möglichkeit’ sehr viel mehr auf dem Verschulden als auf der Wider-
rechtlichkeit?979, Im Mittelpunkt steht damit die subjektive Seite der
Amtshaftungsvoraussetzungen und nicht so sehr die objektive.
Trotzdem steht fest, dass sich der Ausschlussgrund der ‚Ver-
tretbarkeit’ auf beide Amtshaftungsvoraussetzungen erstreckt — auf
das Verschulden ebenso wie auf die Widerrechtlichkeit. Ist der óf-
fentliche Rechtstráger bei der Ausübung der ihm übertragenen Ho-
heitsgewalt nur sorgfältig vorgegangen, entfällt eine Vorwerfbarkeit
unter beiden Gesichtspunkten bzw. Amtshaftungsvoraussetzungen.
In diesem Umfang tritt der Ansatz, den der OGH mit dem
Attribut der ‚Vertretbarkeit’ gewählt hat, zwischen die beiden Amts-
haftungsvoraussetzungen der Widerrechtlichkeit und des Verschul-
dens, die er zu einem einzigen Kriterium verklammert: In der Praxis des
OGH wird zwischen diesen beiden Amtshaftungsvoraussetzungen
eine gegenseitige Bedingtheit erzeugt, die antagonistische Züge besitzt
und die sich in einem gemeinsamen Ergebnis — dem Tatbestand der
,Vertretbarkeit' — verwirklicht. Ist sie nur sorgfältig und damit ,ver-
tretbar' im Sinne der Praxis des OGH, führt die Vorgehensweise ei-
2970 Diese Einschätzung ergibt sich aus der Praxis des OGH in seinem Beschluss vom 5. Februar
1998, OG-C 471/95, LES 4/1998 S. 233, sowie in seinem Urteil vom 1. April 1999, OG-C
471/95-57, LES 4/1999 S. 246, bzw. aus der in diesem Urteil enthaltenen Feststellung, dass
die Vertretbarkeit einer Rechtsansicht ... einen Amtshaftungsanspruch (ausschliesst), weil in
einem solchen Fall von einer schuldhaften Schádigung ... nicht gesprochen werden kanr
(Kursivstellung durch den Verfasser).
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