Zum einen hat Kley zu Recht darauf hingewiesen, dass die
Praxis des Staatsgerichtshofes in StGH 1978/8 auf einer „fehlerhaf-
te(n) Rechtsvergleichung” beruht und dass das Schweizerische Bun-
desgericht ,selbstverstándlich nicht eine derart vólkerrechtsfeind-
liche Haltung vertreten (hat)"?^93, Zum anderen hat sich die Praxis
des Staatsgerichtshofes seit StGH 1978/8 nicht nur implizit, sondern
auch explizit zu einer Anerkennung des Vorrangprinzips als einem
Strukturprinzip der liechtensteinischen Verfassungsordnung entwik-
kelt. So hat der Staatsgerichtshof in einem Zeitpunkt, in dem er den
faktischen’ Verfassungsrang der EMRK?#° noch nicht bestätigt hatte,
keinen Augenblick gezôgert, ein formelles Gesetz2495 auf seine in-
haltliche (,materielle”) Vereinbarkeit mit der EMRK, d.h. mit einem
völkerrechtlichen Vertrag zu überprüfen?196, dem im Urteilszeit-
punkt kein Verfassungs-, sondern (höchstens) der Rang eines formellen
Gesetzes zugeschrieben worden war.
Damit hat der Staatsgerichtshof aber nichts anderes zu erken-
nen gegeben, als dass ein formelles Gesetz ohne weiteres auf seine
Vereinbarkeit mit einem völkerrechtlichen Vertrag auf der gleichen
Rechtsquellenstufe (nämlich auf jener eines formellen Gesetzes) über-
prüft werden kann (und nicht umgekehrt, wie es in StGH 1978/8 der
Fall zu sein scheint)?497, Die Einschränkung in StGH 1978/8 ist - in
diesem Umfang - obsolet geworden.
2493 Kley (Auslegung) S. 79 (Fussnote 67).
2494 Siehe hierzu StGH 1995/21, LES 1/1997 S. 28.
2495 8 486 StGB.
2496 Siehe hierzu StGH 1982/65, LES 1/1984 S. 2f, StGH 1989/8, LES 2/1990 S. 63 oder StGH
1990/17, LES 1/1992 S. 17f. Siehe zum (Derogations-)Verhältnis zwischen der EMRK und
formellen Gesetzen Hófling (Grundrechtsordnung) S. 28: ,Wegen der besonderen vólker-
rechtlichen Qualität der EMRK wird man im Ergebnis — trotz ihres grundsätzlich lediglich ein-
fachrechtlichen Ranges innerhalb der liechtensteinischen Rechtsordnung — davon ausgehen
müssen, dass ein spáteres Gesetz die EMRK nicht wird derogieren können“.
2497 Dass das Landesrecht auf der Rechtsquellenstufe eines formellen Gesetzes auf einen
Vorrang vor Vólkervertragsrecht der gleichen Rechtsquellenstufe verzichtet, geht z.B. aus $
27 Abs. 1 JN hervor, wo es heisst, dass das F.L. Landgericht auslándischen Gerichten
Rechtshilfe zu leisten hat, „sofern nicht besondere hierauf bezügliche Anordnungen (Staats-
verträge ...) etwas anderes festsetzen“. Auch wenn es sich bei diesem Tatbestand nicht um
eine Überprüfung im Rahmen der Normenkontrolle, sondern um eine Anwendung der klassi-
schen Derogationsregel der /ex specialis handelt, ergibt sich aus $8 27 Abs. 1 JN, dass das
Landes- vor dem Vólkervertragsrecht auf der gleichen Rechtsquellenstufe in Fállen wie die-
sem keinen Vorrang beansprucht.
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