Die Möglichkeit, den Staatsgerichtshof auf der Grundlage ei-
ner Verfassungsbeschwerde (Grundrechtsrüge) mit einer Verletzung
von Rechtspositionen zu befassen, die nicht durch die LV oder durch
die EMRK/den UNO-Pakt II (Art. 23 Bst. a bis c SIGHG), sondern
durch einen anderen völkerrechtlichen Vertrag gewährleistet werden, er-
weitert nicht nur das Spektrum der in einem Anlassfall zur Verfü-
gung stehenden Verteidigungsmittel, sondern entspricht auch dem
Ideal eines sowohl durch das Verfassungs- als auch durch das Völkerver-
tragsrecht garantierten Grundrechtsschutzes: Diese Möglichkeit versetzt
das StGHG mit einem Gesichtspunkt, der „die Funktion übernimmt,
die objektive Verfassungsordnung durchzusetzen"?460 — wobei zu
dieser objektiven Verfassungsordnung nicht nur das (geschriebene
oder ungeschriebene) Verfassungsrecht, sondern auch das Vólkerver-
tragsrecht gehórt; unter , Verfassungsmássigkeit' kann (und muss!) in
Art. 104 Abs. 2 erster Satz LV auch ,Vólkervertragsrechtsmássigkeit'
verstanden werden?^8!, Damit wird ein Quantensprung hin zu einer
Gleichstellung des Landes- und des Vólkervertragsrechts auf der Ebe-
ne des Grundrechtsschutzes erreicht. Dies ist zweifellos zu begrü-
ssen.
Wie gross ist jedoch das Potential dieser Entwicklung? Eine
Antwort auf diese Frage hat — ein weiteres Mal — der Praxis des
Staatsgerichtshofes zu folgen: Wenn im Einklang mit Kley festzustel-
len ist, dass der Staatsgerichtshof ,im Verfahren geméss Art. 23
StGHG ... die Beachtung (vor allem aber nicht allein der Grund-
rechte) der Verfassung und der Europáischen Menschenrechtskon-
vention sowie die Einhaltung des EWR-Abkommens (überprüft), das ei-
nen Quasi-Verfassungsrang besitzt“2462, entspricht dies StGH
1997/29 — in diesem Erkenntnis hat der Staatsgerichtshof die Freizü-
gigkeit gemäss Art. 28 EWRA über Art. 23 Bst. b und c StGHG hinaus
als eine (weitere) Rechtsposition bezeichnet, die den Einzelnen durch
einen (anderen) vólkerrechtlichen Vertrag (als durch die EMRK oder
den UNO-Pakt II) im Sinne eines Grundrechtes garantiert wird und
deren Verletzung (durch die Entscheidung oder Verfügung eines
Vollzugsorgans) mit Verfassungsbeschwerde (Grundrechtsrüge) an-
gefochten werden kann.
Dass es auch ausserhalb dieser Fälle zu einem Rechtsschutz-
und Rechtssicherheitsbedürfnis der Einzelnen kommen kann, dem
2460 Kley (Landesbericht) S. 14.
2461 Siehe hierzu das 6. Kapitel.
2462 Kley (Landesbericht) S. 9 (Kursivstellung durch den Verfasser).
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