In diesem Zusammenhang heisst es in StGH 1997/29, dass
„das EWR-Abkommen ... materiell einen verfassungsändernden
bzw. -ergánzenden Charakter ... (hat). Insoweit den durch das EWR-
Abkommen gewáhrleisteten Rechten demnach ein verfassungsán-
dernder bzw. —ergánzender Charakter zukommt, sind diese auch einer
Überprüfung im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde zugünglich. Das
Recht auf Freizügigkeit der Arbeitnehmer ist zu diesen Rechten zu
zählen, weshalb der Staatsgerichtshof auf eine entsprechende Rüge
materiell einzutreten hat“2456,
Dass diese Erweiterung des Prüfungsmasstabes von Art. 23
StGHG (auf einen anderen völkerrechtlichen Vertrag als auf die
EMRK und den UNO-Pakt II) wegweisend ist, liegt auf der Hand:
Aufgrund ihrer Plurifunktionalitüt?^?" ist die Verfassungsbeschwerde
(Grundrechtsrüge) im Normenkontrollsystem der LV und des
StGHG das mit Abstand wichtigste und wirksamste Mittel, um an den
Staatsgerichtshof als Kassationsgerichtshof zu gelangen, d.h. um den
Staatsgerichtshof zu einer Aufhebung verfassungs- oder völkerver-
tragrechtswidriger Gesetzgebungsakte zu veranlassen; „ein Einzelner
kann einzig dann eine Überprüfung von Gesetzen und Verordnun-
gen herbeiführen, wenn er als Antragsteller eine Beschwerde gegen
eine Verfügung oder ein Urteil beim Staatsgerichtshof anhängig
macht, wobei dieser Einzelakt rechtsatzmässig auf einer Gesetzes-
oder Verordnungsnorm beruht“2458 Nur „auf diese Weise können
die Privaten ... indirekt anlässlich der Anfechtung eines individuel-
len Gerichts- oder Verwaltungsaktes die Normenkontrolle auslö-
42459
sen .
2456 StGH 1997/29, n. publ., Pkt. 3.3.1 der Entscheidungsbegründung, S. 13 des Entscheidung-
stextes (Kursivstellung durch den Verfasser).
2457 Siehe hierzu Wolfram Hófling, Die Verfassungsbeschwerde als subjektives und objektives
Rechtsschutzinstitut, in: LPS Bd. 32, Vaduz 2001, S. 138ff.
2458 Kley (Landesbericht) S. 14.
2459 Kley (Landesbericht) S. 14. Es ist darauf hinzuweisen, dass die unter Art. 23 StGHG mit
Verfassungsbeschwerde (Grundrechtsrüge) anfechtbaren Vollzugsakte dann, wenn ihre Vôl-
kervertragsrechtswidrigkeit geltend gemacht wird, in der Regel auf formellen Gesetzen oder
auf Verordnungen beruhen, die ihrerseits (vermeintlich) vólkervertragsrechtswidrig sind. In
diesen Fállen steht den Rechtsunterworfenen, um an den Staatsgerichtshof zu gelangen, in
der Regel der Weg einer Anfechtung wegen Verletzung des Willkürverbotes oder des Rechts
auf einen ordentlichen Richter (Art. 33 Abs. 1 LV) oder der Weg eines Prüfantrages gemáss
Art. 28 Abs. 2 SIGHG zur Verfügung. Steht dieser Zugang zum Staatsgerichtshof gemáss
Art. 23 StGHG nicht zur Verfügung, haben die Rechtsunterworfenen die Vólkervertrags-
rechtswidrigkeit der ihre Rechtsposition belastenden formellen Gesetze oder Verordnungen
unter Art. 28 Abs. 2 StGHG geltend oder eine Verfassungsbeschwerde (Grundrechtsrüge)
unter Art. 23 StGHG anhangig zu machen — was die Verletzung eines durch die LV, durch die
EMRK oder den UNO-Pakt Il garantierten (Grund-)Rechts zur Voraussetzung hat. Siehe hier-
zu Wille (Verfassungsgerichtsbarkeit) S. 54ff sowie das 21. Kapitel Pkte. 2.2 und 2.3.
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