5.1
Kommentar
Zusammenfassung und Kritik
Die Praxis des Staatsgerichtshofes zur Behebung von Normenkolli-
sionen zwischen dem Vólkervertrags- und dem Landesrecht?^48 wird
durch das Substrat einer Reihe von Erkenntnissen gebildet, denen
Grundsátze zu entnehmen sind, die über den Anlassfall hinausgehen
und deren Motivation unter anderem darin besteht, die für eine Be-
handlung dieses Problems massgebenden Lósungsmechanismen zu be-
zeichnen. Problemlósungsbewusstsein ist die ratio dieser Praxis gewe-
sen; ihr Ergebnis eine Ausweitung der Befugnisse des Staatsgerichts-
hofes um eine Überprüfung von Gesetzgebungs- und Vollzugsakten
auf ihre Vólkervertragsrechtsmássigkeit jenseits der vom StGHG ge-
nannten vólkerrechtlichen Vertráge (EMRK und UNO-Pakt IT).
Der Ausgangspunkt dieser Praxis ist der Umstand gewesen,
dass der Staatsgerichtshof unter dem Begriff der , Verfassungsmássig-
keit’ i.S.v. Art. 104 Abs. 2 erster Satz LV die inhaltliche (,materielle")
Vereinbarkeit des Landesrechts nicht nur mit dem (geschriebenen
oder ungeschriebenen) Verfassungs-, sondern auch mit dem Vólkerver-
tragsrecht verstanden hat. Als Prüfungsmasstab kommen dabei nicht
nur jene vólkerrechtlichen Vertráge in Frage, die auf Verfassungsstu-
fe stehen (die EMRK?^^9, der UNO-Pakt II?499, das EWRA?^*! sowie
auch eine Reihe von Bestimmungen des ZV), sondern auch jene auf
der Rechtsquellenstufe formeller Gesetze (Staatsvertrüge)?^*?.
Auf dieser Grundlage hat der Staatsgerichtshof seine Praxis zu
einem Format entwickelt, in dem sich vom Kleinen auf das Grosse
schliessen lässt; er hat seine ,, verfassungsrechtliche Leitfunktion”?#°3
auch in jenen Fällen wahrgenommen, in denen nicht nur die Rechts-
setzung (Gesetzgebung), sondern auch die Rechtsdurchsetzung
(Vollzug) aufgrund eines Normwiderspruchs mit dem Vôlkerver-
tragsrecht in Frage steht. An diesen Vorgaben gemessen beruhen die
2448 Unter dem Begriff des ,Landesrechts’ sind in diesem Zusammenhang sowohl generell-
abstrakte Gesetzgebungs- als auch individuell-konkrete Vollzugsakte zu verstehen.
2449 Art. 23 Bst. b StGHG.
2450 Art. 23 Bst. c StGHG.
2451 StGH 1996/34, LES 2/1998 S. 80.
2452 Siehe hierzu das 18. Kapitel Pkt. 3.
2453 StGH 1995/20, LES 1/1997 S. 38; siehe hierzu Wille (Verfassungsgerichtsbarkeit) S. 44ff.
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