Volltext: Das Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht nach Massgabe der Praxis des Staatsgerichtshofes des Fürstentums Liechtenstein

An diesem Befund ändert der singuläre und vor allem gesetzes- 
systematisch mehr oder weniger erratische Vorbehalt von Art. 107 LV 
nichts 194%; durch ihn wird die Analyse vielmehr bestätigt: Diese Klau- 
sel legt die Annahme nahe, dass das Vorrangprinzip in der Verfassung 
vom 16. März 2003 nur noch dort zur Geltung kommt, wo es (so wie 
in dieser Bestimmung, d.h. wie in Art. 107 LV) nicht nur implizit, 
sondern explizit vorbehalten wird. Aber auch sonst wird in der Ver- 
fassung vom 16. März 2003 gegen das Vorrangprinzip vorgegan- 
gen 1965, 
Mit dieser Neuausrichtung, die von der Regierung im Zuge der 
sog. Verfassungsdiskussion mit der Aussage unterstützt worden ist, ei- 
nen „allgemeinen Grundsatz, wonach das Völkerrecht dem inner- 
staatlichen Recht vorgeht, kennt das liechtensteinische Recht nicht“1966, 
EuGRZ, Heft 17-20, 28. Jg. S. 475ff) als auch aus Punkt E. der bei der Regierung in seinem 
Namen eingereichten und unter http:/www.fuerstenhaus.li veröffentlichten Gegenäusserung 
vom 4. September 2002 hervor, wo es — im Widerspruch zu StGH 1995/21, LES 1/1997 S. 28 
— heisst: ,Es dürfte allgemein bekannt sein, dass nach liechtensteinischen Recht die EMRK 
nicht im Verfassungsrang steht". 
1964 Im Gegenteil stellt sich die Frage, ob der , Vorbehalt staatsvertraglicher Abmachungen" in Art. 
107, der der einzige Vorbehalt dieser Art ist, bedeutet, dass das Vólkervertrags- dem Landes- 
recht nur in diesem oder auch in (allen) anderen Punkten vorgehen soll. Welcher Gróssen- 
schluss soll also gezogen werden? Vom Kleinen auf das Grosse (Vorrang des Vólkervertrags- 
vor dem Landesrecht)? Oder umgekehrt (Vorrang des Vólkervertrags- vor dem Landesrecht 
nur in diesem Punkt)? 
1965 Nach Massgabe der Verfassung vom 16. Márz 2003 sollen die aufgrund von Art. 15 Abs. 2 
EMRK ,notstandsfesten' Menschenrechte und Grundfreiheiten (Grundrechte) durch Notver- 
ordnungen nicht beschránkt werden kónnen. Dies sieht ein neu gefasster Abs. 2 von Art. 10 
LV vor (Notverordnungsrecht; siehe hierzu das 11. Kapitel Pkt. 4). Geht man von einem Vor- 
rang der EMRK (Art. 15 Abs. 2 EMRK) vor dem Landesrecht (Art. 10 LV) aus, bedarf es einer 
solchen Regelung nicht. Einer solchen Regelung bedarf es nur, wenn der EMRK (Art. 15 Abs. 
2 EMRK) kein Vorrang zuerkannt wird. Wie anderswo auch muss auch im Rahmen von Art. 
10 Abs. 2 LV davon ausgegangen werden, dass mit dieser Revision des Notverordnungs- 
rechts eine Änderung der Rechtslage angestrebt wird. Andernfalls bedarf es keiner Revision. 
Nachdem die ‚notstandesfesten’ Grundrechte (Menschenrechte und Grundfreiheiten) der 
EMRK in Liechtenstein aber schon durch diese selbst garantiert werden (Art. 15 Abs. 2 
EMRK), kann die Revision von Art. 10 LV durch die Verfassung vom 16. März 2003 nicht an- 
ders verstanden werden als dass ihr der Gedanke zugrunde liegt, dass es erst die Revision 
von Art. 10 LV und nicht schon die EMRK (Art. 15 Abs. 2 EMRK) ist, die eine ,Nicht- 
Beschränkung’ der ‚notstandsfesten’ Grundrechte durch Notverordnungen sicherstellt. Dieser 
Gedanke bedeutet aber nichts anderes als dass der EMRK (Art. 15 Abs. 2 EMRK) ein Vor- 
rang vor dem Landesrecht nicht zugestanden wird. Denn nochmals: Wäre das Gegenteil der 
Fall, würde Art. 10 LV in diesem Punkt keiner Neufassung bedürfen. Sollte diesem Verständ- 
nis nicht gefolgt werden, muss in Art. 10 Abs. 2 LV ein Schritt in Richtung Dualismus gesehen 
werden: Eine Bestimmung des Völkervertragsrechts (Art. 15 Abs. 2 EMRK) erwirbt erst durch 
ihre Aufnahme in das bzw. durch ihre Wiederholung im Landesrecht (Art. 10 Abs. 2 LV) 
Rechtskraft in diesem — und zwar auch dann, wenn sie zu einer unmittelbaren Anwendbarkeit 
geeignet ist. Alle anderen Erklárungen sind sehr viel weniger nahe liegend. Einer Verfas- 
sungs- oder Gesetzesrevision kann niemals Überflüssig- oder Leichtfertigkeit unterstellt wer- 
den; solche Revisionen streben immer — und zwar auf der hóchsten aller Rechtsquellenstufen 
— eine Änderung der Rechtslage an. Die Annahme, dass Art. 10 Abs. 2 LV nur eine deklarato- 
rische Bedeutung besitzt, scheidet aus diesem Grunde aus. 
1966 Regierung (BuA Nr. 88/2002) S. 7 (Kursivstellung durch den Verfasser). 
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