Differenzierung in Theorie und Praxis? Führt die Anerken-
nung eines ‚faktischen’ Verfassungsranges zu einem anderen
Ergebnis als jene eines ‚rechtlichen’? Aus StGH 1995/21 geht
eine Antwort auf diese Fragen nicht hervor; in diesem Er-
kenntnis hat sich der Staatsgerichtshof in einem Normenkon-
flikt zwischen zwei völkerrechtlichen Vertrágen!6!? mit dem
ebenso viel- wie nichtssagenden Hinweis begnügt, es bestehe
„kein Zweifel, dass der Auslieferungsvertrag eine im Ver-
gleich zur EMRK untergeordnete Normstufe aufweist“ 1620,
Dieser Hinweis ist vor allem deshalb unergiebig, weil er erken-
nen lässt, dass es nicht nur unbefriedigend!621, sondern — aus
der Sicht von Rechtsschutz und Rechtssicherheit — von vorn-
herein auch überflüssig gewesen ist, der EMRK einen wie auch
immer gearteten ,faktischen Verfassungsrang' zuzubilligen.
Ein drittes Beispiel ist die Frage des Rangverháltnisses zwi-
schen der EMRK und dem EWRA, auf die der Staatsgerichts-
hof in StGH 1998/61 wenn auch nicht unmittel-, so doch mit-
telbar eingegangen ist — ohne sie jedoch zu beantworten!6??,
Aus diesem Erkenntnis muss geschlossen werden, dass das
EWRA der EMRK zumindest im Bereich des Wesensgehaltes
der (von der EMRK garantierten) Grundrechte untergeordnet
wird - dies, obwohl dem EWRA Mitte der neunziger Jahre des
vergangenen Jahrhunderts ein ,materiell verfassungsándern-
der bzw. —-ergánzender Charakter zugebilligt worden ist 1623,
Diese Widersprüchlichkeit ist schon der Praxis in StGH 1993/18
und 1993/19 einerseits und in StGH 1994/26 andererseits Pate
gestanden; auch diese beiden Erkenntnisse lassen die Festle-
1619 Im Anlassfall ging es um das Verháltnis zwischen der EMRK einerseits und dem Ausliefe-
rungs-Vertrag vom 22. Mai 1936 zwischen dem Fürstentum Liechtenstein und den Vereinig-
ten Staaten von Amerika, LGBI. 1937 Nr. 11; LR 0.353.913.11, andererseits
1620 StGH 1995/21, LES 1/1997 S. 28. Wird er beim Wort genommen, hat der Staatsgerichtshof in
StGH 1995/21 nichts anderes als eine Rechtsquellenstufe ,unter faktischem Verfassungsrang'
begründet — was dies auch immer bedeuten mag. Hinzu kommt, dass die Funktion, in die die-
se Zweischneidigkeit vom Staatsgerichtshof gestellt worden ist — die Begründung der Nicht-
Auslieferung eines Auslánders wegen einer Unvereinbarkeit mit dem Verbot unmenschlicher
oder erniedrigender Strafe gemass Art. 3 EMRK — der Praxis in StGH 1975/3, ELG 1973-
1978 S. 386 widerspricht. In diesem Erkenntnis hatte der Staatsgerichtshof die Auslieferung
eines Ausländers als mit dem Völkergewohnheitsrecht und mit dem Völkervertragsrecht unter
Einschluss der EMRK noch als vereinbar behandelt.
1621 Siehe hierzu Höfling (Europäische Menschenrechtskonvention) S. 144 sowie zur Begründung
dieser Praxis StGH 2001/2, n. publ., Pkt. 3.1 der Entscheidungsgründe, S. 21 des Entschei-
dunsgtextes.
1622 Siehe hierzu das 25. Kapitel Pkt. 3.1.2.
1623 Siehe hierzu oben Pkt. 3.1.
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