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Kommentar
Zusammenfassung und Kritik
Zusammenfassung
Trotz StGH 1977/10/V hat der Staatsgerichtshof den Bestand eines
völkervertragsrechtlichen Verordnungsrechts in seiner Praxis nicht
nur anerkannt, sondern auch legitimiert. In jüngster Zeit (in StGH
2002/84) ist das völkervertrags- mit dem landesrechtlichen Verord-
nungsrecht dadurch verschmolzen worden, dass beide Kompetenzen
aus der gleichen staats- bzw. verfassungsrechtlichen Grundlage (Art.
92 Abs. 1 zweiter Satz LV i.d.F.d. Verfassung vom 5. Oktober 1921)
abgeleitet worden sind: In beiden Fällen — d.h. unabhängig davon, ob
die Rechtsgrundlage durch einen völkerrechtlichen Vertrag oder
durch ein formelles Gesetz gebildet wird — liegt eine „generelle Er-
mächtigung der Regierung“ 1285 zur Verordnungebung vor.
Trotz des Wortlautes von Art. 92 Abs. 1 zweiter Satz LV
i.d.F.d. Verfassung vom 5. Oktober 1921 ist die Regierung also dazu
befugt, Verordnungen auf der Rechtsgrundlage nicht nur von for-
mellen Gesetzen, sondern auch von vólkerrechtlichen Vertrágen zu
erlassen. Als Rechtsgrundlage für den Erlass von Verordnungen er-
setzen „die hinreichend prázisen, unmittelbar anwendbaren (self
executing^) Staatsvertráge ... die formellen Gesetze und treten an de-
ren Stelle; der Erlass eines inhaltsgleichen formellen Gesetzes ist un-
nötig“ 1286
Auch wenn sie die Akzente unterschiedlich setzen, sind StGH
1997/19, StGH 1997/41 und VBI 1998/72 für diese Praxis beispielhaft:
In StGH 1997/19 wird der verfassungsändernde bzw. -ergänzende
Charakter des EWRA!287, in StGH 1997/41 wird „primär“1288 gas
ANAG und in VBI 1998/72 werden die FPA I und II als Rechts-
grundlage für ein- und dieselbe Verordnung (die BVO) herangezo-
1285 StGH 2002/84, n. Publ., Pkt. 2.2.1 der Entscheidungsgründe, S. 19 des Entscheidungstextes.
1286 Kley (Verwaltungsrecht) S. 173, der seine Feststellung allerdings — unzutreffenderweise — mit
dem Attribut der ‚unmittelbaren Anwendbarkeit des in Frage stehenden vólkerrechtlichen
Vertrages verknüpft; siehe hierzu unten Pkt. 4.2.2.
1287 Siehe zum verfassungsándernden bzw. —ergánzenden Charakter des EWRA StGH 1996/34,
LES 2/998 S. 80.
1288 StGH 1997/41, n. publ., Pkt. 2 der Entscheidungsgründe, S. 10 des Entscheidungstextes.
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