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man kopfschiittelnd die Frage, ob es denn wirklich einen so
£rossen Apparat und so viel rauschendes Gepräge brauche,
um das Schweizervolk zu einem freundnachbarlichen »Liebes-
dienst" aufzurütteln. Man konnte sich des Eindrucks nicht er-
wehren, dass es den schweizerischen Führern des vielstim-
migen Chors weit mehr daran gelegen sei, den ,,Liebesdienst"
zu erweisen, als die Liechtensteinern ihn zu empífan-
£en. Man las endlich das Horoskop, das ein klarblickender
und ehrlicher Welscher in einem Artikel ,Un Etat en miniature“
in der ,Gazette de Lausanne“ dem Nachbarlande stellte:
»Schweizerwährung, Schweizerpost, Schweizer Zollverwal-
tung — was bleibt unserer bescheidenen Nachbarin an wirt-
schaftlicher Autonomie noch übrig? Lehrt uns die Geschichte
nicht, dass der Verlust der wirtschaftlichen Selbständigkeit
verhängnisgleich dem Verluste der politischen Unabhängigkeit
vorausgeht? Sollte Liechtenstein eine Ausnahme zu dieser
Regel bilden?‘“* Man erinnerte sich auch, wie schon vor
Jahresfrist das grösste deutschschweizerische Blatt die An-
schlussbewegung präludierte, wie es seine Leser für ein neues,
grosshelvetisches Staatsideal empfänglich zu machen und sie
- darauf vorzubereiten suchte, im ,stammverwandten" Liech-
tenstein nicht nur einen Gescháftsteilhaber, sondern eine Art
.zugewandten Ort" (,Neue Zürcher Zeitung" 1922, Nr. 184)
zu begrüssen und ihm dadurch, wie in der alten Eidgenossen-
schaft, die Anwartschaft auf ein engeres Verhältnis zu unserem
Staate zuzuerkennen.
Das Schwinden der liechtensteinischen Souveränität würde
uns wahrlich wenig kümmern, wenn sie sich wie ein Schnecken-
horn still und ohne Nebenwirkung in sich selbst zurückzöge.
Aber so verhält sich die Sache nicht. Jedes Minus an liechten-
steinischer Souveráünitàt bedeutet infolge der Zollunion ein :
Plus an schweizerischer Staatshoheit, und das Ende vom Lied
ist: ein zugewandter Ort — ein neues Glied der schwei-
zerischen Eidgenossenschaít.
Die Frage, die heute zur Diskussion vorliegt, ist daher
nicht: , Wollen wir unsere Zollgrenze verlegen?" Sondern
sie lautet, wenn man die mit dieser Verlegung gegebenen Móg-
lichkeiten und Wahrscheinlichkeiten der Entwicklung mit in
* Monnaie Suisse, postes Suisses, douanes Suisses, que reste-t-il
de l'autonomie économique de notre modeste voisine? L'histoire ne
nous enseigne-telle que la perte de l'autonomie économique précéde
fatalement celle de l'indépendance politique? Le Liechtenstein ferait-
il exception à la regle? (Gazette de Lausanne 1922, No 126).