Volltext: EINTRACHT (2011) (Advent)

EINTRACHT ADVENT 2011 LIEBE LESERINNEN LIEBE LESER Brauchtum, was wird aus Dir? Anton P. Tschechov (1860 bis 1904), russischer Arzt und Schriftsteller, unternahm im Alter von dreissig Jahren eine dreimonatige Reise nach Sachalin, ganz im Osten Sibi­ riens. Nach Sachalin verbannte Ge­ setzesbrecher, sogenannte Strafko­ lonisten oder Deportationsbauern waren als Zwangsarbeiter dazu «auserwählt», dieses klimatisch ex­ trem unwirtliche Gebiet (Tempera­ tur im Jahresmittel um Null Grad) zu bevölkern. Tschechov gab sich als Volkszähler aus und konnte sich so ein sehr genaues Bild der Ver­ hältnisse verschaffen. Es entstand das bemerkenswerte Buch «Die In­ sel Sachalin». Zitat daraus: « ... es gibt kein Brauchtum. Die Ein­ richtung hat zufälligen Charakter, und es sieht so aus, als lebe die Fa­ milie nicht bei sich zu Hause, son­ dern in einer fremden Wohnung oder als sei sie gerade angekommen und noch nicht warm geworden; es gibt keine Katzen, an den Winter­ abenden hört man kein Heimchen zirpen, und, was die Hauptsache ist, es fehlt die Heimat.» Brauchtum und Heimat sind zentral für ein gelingendes Zusammenleben von Menschen Wie beginnt, wann und wo gedeiht Brauchtum? Wie lange dauert es, bis ein bewusstes Tun zum Ritual wird? Und wie lange dauert es, bis ein Ritual zur Gewohnheit, eine Gewohnheit zur lieben Gepflogen­ heit wird? Und endlich, ab wann ist es mehr als «nur» Gepflogenheit? Wie oft muss etwas auf die gleiche Weise wiederholt werden, wie vie­ le müssen aktiv mitmachen, um die Bezeichnung «Brauchtum» berech­ tigt erscheinen zu lassen? Wer mag zum ersten Mal beispielsweise mit Kreide ein C+M+B samt Jahreszahl über einen Hauseingang geschrie­ ben - oder eine junge Fichte auf einen fertig erstellten Dachstuhl ge­ bracht haben, wer färbte einst das erste Osterei, oder wer war es, der 
als Erster eine Braut von einer Hochzeit «weggestohlen» hat? An­ ders gefragt - welche der heutigen Aktivitäten bergen in sich das Po­ tenzial, später Brauchtum genannt zu werden? Gute Voraussetzungen sind Tag für Tag gelebte Harmonie, (nicht zu grosser) Wohlstand, Vertrauen inein­ ander, Bereitschaft zur Toleranz und Freude am gemeinsamen Feiern. Der Weg war kurz vom Sennen-Ave zum ehrfürchtigen prüfenden Blick auf den Abendhimmel, als die Bau­ ern noch vom Wetter abhängig wa­ ren. Wurde daraus der ehrfürchtige und prüfende Blick auf die Monito­ re mit den geltenden Börsenkursen? Und nach weiteren fünfzig Jahren? Es ist zu hoffen, dass nicht sämtli­ che schönen Rituale sich nur im virtuellen Raum abspielen. Darum: Gott sei Dank, noch sind sie da, die Wächter über unser Brauchtum. Die Hüter der alten Traditionen Wer zum Beispiel wie die Kirche vorgibt, was in welcher Form zu welchem Anlass geschehen soll und was zu unterbleiben hat, kon­ trolliert damit gewisse Machthebel und steht deshalb in der Verantwor­ tung. Das kann lange zur allgemei­ nen Zufriedenheit, ja Freude seinen Lauf nehmen. Auch blasse Monoto­ nie kann sich jedoch einstellen. Deshalb sehen ja auch nicht alle Ostereier gleich aus, deshalb unter­scheiden 
sich Trachtenhauben, des­ halb schmeckt nicht ein jedes Fun- kaküachle haargenau wie das ande­ re. Spielarten entstehen innerhalb eines allgemein anerkannten und befürworteten Rahmens. Geht es dabei um etwas sensiblere Grenz­ bereiche, kommt der Begriff «Sitte» ins Spiel. Nehmen wir nun an, die Hüter der Traditionen müssen fest­ stellen, dass dieses vorgegebene Gebäude auf einmal zu zwicken be­ ginnt, zu eng wird, nicht mehr pas­ sen will, und sie möchten aber keine Veränderung, Öffnung - was dann? Dann kann es stickig werden, Risse geben, dann wird es Zeit zu lüften, dann braucht es frischen Wind. Schon, bei Durchzug droht Verküh­ lung und es kann einmal eine Tür zuschlagen - unangenehm - von der frischen Luft aber profitieren letztlich alle. Deshalb, öffnet Fens­ ter und Türen, öffnet Hallen und Kapellen, gebt Raum für altes und neues Brauchtum! Freuen wir uns miteinander an den Spielarten, wie wir uns immer wieder, wenn wir nur genau hinsehen, an den Spiel­ arten in der Vielfalt der Natur, die Gott erschaffen hat, in Eintracht freuen dürfen. Apropos Eintracht: Ist vielleicht das Durchblättern der EINTRACHT für Sie, liebe Leserin­ nen und Leser, im Lauf der Zeit schon zu einem kleinen «Brauch» geworden? Adulf Peter Goop wäre stolz darauf gewesen. A.K. 
Andacht und Ehrfurcht beim Sennen-Ave - Andacht und Ehrfurcht vor den Börsendaten 3
	        

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