Volltext: EINTRACHT (1999) (Advent)

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EINTRACHT ADVENT 
1999 SAGEN Das Nachtvolk Wie das ist, wenn man schlaflos im Bette liegt und auf die Geräusche der Nacht horcht! Ist es das Mur- meln des Baches, ein Glockenton, ein fallendes Blatt, der Wind? In den alten Zeiten kam es vor, dass man Schritte von vielen Menschen hörte, die draussen wie in einer langen Prozession vorbeizogen. Ein dumpfes Gemurmel, als beteten sie, drang durch die Fenster herein. Die alten Leute wussten, was das be- deutete. Sie beteten leise für ihr Seelenheil und hüteten sich wohl, an das Fenster zu gehen; denn es war das Nachtvolk, das draussen vorbeizog, ein Zug von Abgeschie- denen, die keine Ruhe fanden. Wohl trieb es manchen Vorwitzigen und Neugierigen dennoch ans Fen- ster, denn man erzählte sich, dass in der letzten Reihe der murmeln- den Gestalten jene Menschen zu sehen waren, die noch lebten, de- nen aber damit angezeigt war, dass sie bald sterben 
mussten. Schau, wer bald sterben muss! Einmal erwachte ein älteres Ehe- paar, weil es draussen auf der Stras- se die Schritte und das Murmeln des Nachtvolks hörte. Die neugieri- ge Frau, die sich selber nicht ge- traute, es zu tun, die aber gerne das Neueste im Dorf wissen wollte, sagte aufgeregt zu ihrem Mann: «Du, das Nachtvolk geht vorbei. Schau doch schnell einmal hinaus, dann siehst du, wer bald sterben muss, und wir können für ihn ein Vaterunser beten.» Der Mann kleidete sich im Dunkeln an, mit Mühe fand er seine Socken, dann öffnete er vorsichtig den Fen- sterladen und spähte hinaus. Er schaute den schemenhaften Gestal- ten nach, und als seine Frau aufge- regt flüsterte, wer zuhinterst in der Reihe gehe, schüttelte er nur denKopf: 
«Ich kann es nicht genau se- hen, es ist so dunkel, aber irgend- wie kommt mir die Gestalt bekannt vor. Merkwürdig ist nur, dass sie zwei verschiedene Socken trägt, ei- nen hellen und einen 
schwarzen.» Ein heller und ein schwarzer Socken erschrecken ihn Dann schloss er den Fensterladen; er machte nun Licht, um sich wie- der auszuziehen, währenddem die Frau daran herumrätselte, wer diese Gestalt sein könnte. Als der Mann seine Socken auszog, fuhr ihm der Schrecken in die Glieder; denn er bemerkte, dass er in der Dunkelheit zwei verschiedene Socken, einen hellen und einen schwarzen, ange- zogen hatte. Der helle Socken gehörte seiner Frau, in der Finster- nis hatte er sie verwechselt. Er brachte kein Wort heraus; seine Frau wollte Näheres wissen, um es am Morgen den Nachbarsfrauen zu erzählen, er aber legte sich schwei- gend zu Bett.Die 
Gestalt kam ihm irgendwie bekannt 
vor. Nach einer Woche geschah das An- gekündigte. Er stürzte vom Heubo- den und war tot. Er hatte sich selber im Zug des Nachtvolkes gesehen. Dino Larese 27
	        

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