Volltext: EINTRACHT (1996) (Staatsfeiertag)

ES EINTRACHT STAATSFEIERTAG 
1996 UNSER GAST Otmar Hasler, 
Benoem Grenzüberschreitungen Liechtenstein ist 
Grenzland Grenzen, wohin unser Auge sich richtet. Grenzüberschreitungen bei tagtäglichen Verpflichtungen prä- gen und formen uns. Grenzen ver- binden Menschen, können sie auch trennen. Wenn man von seinem Wohnsitz, seinem Arbeitsplatz den Blick täglich über die Grenze rich- tet, wenn vertraute Menschen, Freunde jenseits der Grenze ihren täglichen Verrichtungen nachge- hen, verlieren geographische Gren- zen ihren trennenden Charakter, öffnen sich und verbinden sich mit Gefühlen der Sicherheit und des Vertrauens. Der Grenz- und Kleinst- staat Liechtenstein kann zum Mo- dell einer Friedens- und Sicher- heitssordnung werden, die Grenzen nicht als Bedrohung, sondern als Möglichkeit der Bereicherung sieht. Ein wesentlicher Faktor der euro- päischen Kultur ist die Stellung des einzelnen 
Menschen. Der Mensch erfährt täglich Gren- zen. Wer seine eigenen Grenzen nicht erkennt, dem ist die Entwick- lung versagt, der kann nicht an sich wachsen. Selbstüberschätzung und Masslosigkeit des Menschen richten sich gegen ihn und zerstören dieGesellschaft 
und ihre Ordnung. Der demokratische Verfassungsstaat eu- ropäischer Prägung baut auf dem frei und selbstverantwortlich han- delnden Menschen auf. Ein wesent- licher Faktor der europäischen Kul- tur ist die Stellung des einzelnen Menschen, die einen biblisch-theo- logischen Ausgangspunkt in der Verantwortung des einzelnen vor Gott hat. Verantwortung kann nur wahrnehmen, wer die Grenzen sei- ner Freiheit und Forderungen an den Staat kennt und akzeptiert. Scheinbare Grenzenlosigkeit in der technischen Entwicklung, in der Möglichkeit der Selbstverwirkli- chung, im Erfüllen von materiellen Wünschen führt zur Selbstzer- störung des auf Endlichkeit ange- legten Menschen und zur Zer- störung der staatlichen Gemein- schaft. Spontan und unmittelbar zu verwirklichende Bedürfnisbefriedi- gung muss der ethischen Orientie- rung des Daseins, dem vorauspla- nenden Gestalten der Zukunft un- tergeordnet werden. Grenzüberschreitungen tragen die Möglichkeit der Bereicherung unse- res Lebens in sich. Neue Erfahrun- gen, aber auch neue Formen der Zusammenarbeit lassen eine neue Qualität im Leben des einzelnen und des staatlichen Ganzen entste- hen. Der Mut zu Grenzüberschrei- tungen setzt Sicherheit, Vertrauen in das eigene Wesen und die Neu- gier dem Unbekannten gegenüber voraus. Leben bedeutet Fluss, Be- wegung, Entwicklung. Deshalb sind Grenzüberschreitungen Bestandteil jeglichen Lebens. Ich wünsche uns vermehrt den Mut, Grenzüberschreitungen zu wagen. Bringen wir uns in die kulturell so reiche und wirtschaftlich wohlha- bende Region um den Bodensee ein, so haben wir die Möglichkeit, grenzüberschreitend Zentrum in kulturellen Fragen zu werden. Wir dürfen nicht Meister im Ausgrenzen werden, das Eingrenzen und Einbe- ziehen von Aussenstehenden sind für eine kleine Gemeinschaft über- lebensnotwendig.Die 
Gefahr, im eigenen Staat un- überwindbare Grenzen zu errichten und täglich zu verstärken, ist in Zei- ten wirtschaftlicher Unsicherheit zu spüren. Ausgrenzung von ausländischen Mitbewohnern, das Gegeneinan- derausspielen von alt und jung, von Frauen und Männern, von sozial Schwachen und Reichen führt zu Grenzen, die trennen und zer- stören. Sie einzureissen erfordert viel Kraft und Engagement. Gefordert ist Solidarität, das Vor- anstellen gemeinsamer Ziele vor Individualinteressen. Der Kleinststaat ist auf den Men- schen zugeschnitten, er braucht das Engagement aller Mitbewohnerin- nen und Mitbewohner. Er kann sich Grenzen im Innern nicht leisten. Mehr als unnötige Grenzwälle brauchen wir ein Netz intakter so- zialer Beziehungen. Gefordert ist Solidarität, das Voranstellen ge- meinsamer Ziele vor Individual- interessen. Wir sind aufgefordert, Grenzen, die das Wohl der Ge- meinschaft gefährden, im täglichen Leben zu überwinden. Grenzen, die uns vor überbordendem Indivi- dualismus, vor der Schändung un- seres Lebensraumes und der Miss- achtung der Grundrechte bewah- ren, müssen wir anerkennen und verteidigen. Mit unserem Engage- ment festigen wir den Willensstaat Liechtenstein. Vergessen wir aber nie, den Blick zum Fenster hinaus, über die Gren- zen der Region und Europas zu richten, um solidarisch mit den Be- nachteiligten dieser Welt unseren bescheidenen Beitrag an einer ge- rechteren Weltordnung zu leisten.
	        

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