Volltext: EINTRACHT (1994) (Ostern)

'EINTRACHT OSTERN 
1994 UNSER GASTDr. Georg 
Malin Die Kirche im Dorf Unsere Dorfkirchen bilden in der baulichen Akzentuierung das Zen- trum der Dörfer. Dahinter steht eine mehr als tausendjährige Tradition christlichen Glaubens und europäi- scher Kultur. Man kann in Liechten- stein Dorf für Dorf durchgehen, mehr oder weniger ist im Erschei- nungsbild der Dörfer diese Organi- sationsform deutlich erkennbar: Gruppierungen von Häusern um das Gotteshaus. Die Kirche war im Dorf das gesellschaftliche und reli- giöse Zentrum. Der sonntägliche Gottesdienst war auch wöchentli- che Versammlung der Dorfgemein- schaft. Messe und Markt galten als Kehrseiten derselben Medaille. Das Religiöse und Wirtschaftliche, das Politische und das Glaubensgut, der geistige Grund und das gesell- schaftliche Leben haben sich erst in neuerer Zeit in eigenständige Berei- che ausgegrenzt. Die Kirche im Dorf steht als eigentliches Symbol für geistige und gesellschaftliche Gehalte. Die Inhalte, die hinter die- sen architektonischen Zeichen stan- den, unterlagen aber dem gesell- schaftlichen Wandel und dem Selbstverständnis der Generationen und Epochen. Und da die kirchli- chen Bauten oft Jahrhunderte über- dauerten, ist in ihnen Vergangen- heit und Gegenwart nebeneinander wirksam. Oft ist dies als harmoni- sche Ergänzung von Gegensätzen spürbar, manchmal als Spannung zwischen Alt und Neu. Immer je- doch ist die Kirche im Dorf als un- verwechselbares Identitätszeichen der Dorfgemeinschaft wirksam. Heute aber keine Selbstverständ- lichkeit 
mehr.Zur 
Dorfgeschichte Wenn man die Entstehungsge- schichte unserer alten Dörfer nach- zeichnet, sind vor allem drei Ge- sichtspunkte zu beachten: die wirt- schaftlichen Grundlagen, die zur Dorfbildung notwendig waren, die rechtlichen und politischen Voraus- setzungen und schliesslich die kirchlichen Organisationsformen. Wirtschaftsgeschichtlich gesehen, wuchsen die Nachbarschaften - so nannte man die Vorgänger unserer Dorfgemeinschaften - aus genos- senschaftlichen Organisationsfor- men der Landwirtschaft heraus. Zur Aufteilung und Verwaltung von All- mend-, Weid-, Alp- und Waldrech- ten waren elementare Organisati- onsformen notwendig. Die Genos- senschaft leistete einen fundamen- talen Beitrag zur Existenzsicherung der Mitglieder. Parallel zur wirtschaftsgeschichtli- chen Entwicklung verlief der Auf- bau und die Entwicklung des politi- schen Bereichs in Form der Nach- barschaften, die sich in Gerichtsge- meinden zusammenfanden: in die Gerichtsgemeinde der Grafschaft Vaduz und in jene der Herrschaft Schellenberg. In den Nachbarschaf- ten selbst sorgten sogenannte Rich- ter für das gedeihliche Zusammen- leben der Menschen. Die Nachbar- schaften waren in den Gerichtsge- meinden integriert, denen jeweils ein vom Volk frei gewählter Land- ammann vorstand. Die Pfarreien trugen seit spätrö- mischer Zeit oder dem frühesten Mit- telalter ganz wesentlich zum Ent- stehen unserer Dörfer bei. In den letzten dreissig Jahren konnte nach- gewiesen werden, dass die kirch- lichen Organisationsformen bei uns viel älter sind, als man früher anzu- nehmen wagte. In St. Peter in Schaan befindet sich das immer noch älteste in der Diözese Chur nachgewiesene Baptisterium aus dem 5. Jahrhun- dert; die ältesten kirchlichen Bau- ten in Eschen folgen auf spätrömi- sche Architekturen; die ersten Kir- chen in Mauren liegen im Grun- driss einer römischen Villa; in Bendern wurde eine Eigenkirche in einem Hofgebäude aus dem späten 6.Jahrhundert gefunden; und einfrühmittelalterlicher 
Kirchengrund- riss auf Gutenberg in Balzers kann als erstes Gotteshaus der Gemeinde gedeutet 
werden. Das Dorf in der Krise Man muss sich freilich die alten Dörfer viel bescheidener vorstellen als unsere explosionsartig wachsen- den Siedlungen. Um den Kirchen- und Friedhofbereich gruppierten sich einige Häufungen von Firsten. Kellergeschoss und Küche waren meist gemauert, der restliche Auf- bau in Holz erstellt, das flache Gie- beldach mit grossen Schindeln ein- gedeckt und mit Steinen beschwert. Das alte Dorf wird heute von der Entwicklung überrollt. Entlang von Asphaltbahnen entstehen Villen und Wohnblöcke. Die Stallungen sind aus dem dörflichen Ensemble ausgesperrt worden, weitgehend auch die gewerblichen Betriebe. Wo früher Tiere und Menschen, Vorräte und Werkzeuge unter ei- nem Dach Unterkunft gefunden ha- ben, sind heute in Garagen und Unterständen Auto und Motoren in Lebensgemeinschaft mit dem Men- schen eingestellt. Gewiss, eingeleb- te Wirklichkeit. Hinter dieser Fest- stellung jedoch verbirgt sich ein un- geheurer Wandel. Der Begriff Hei- mat wird immer mehr dem Sprachgebrauch entfremdet. Man bringt die Heimatvorstellung in die Nähe des Sentimentalen und des Kitsches. Wer mag in rollenden Au- tokolonnen, bei Stress im Benzin- dampf noch an Heimat denken? Zumal in «der Heimat» über Gara- gen Wohnblöcke und Wohnsilos stehen und alles, was Herkunft und Geschichte bedeutet, der Demonta- ge freigegeben wird. So besteht Gefahr, dass die kommenden Ge- nerationen heimatlos werden. Die Kirchen selbst werden von über- dehnten Gemeindezentren, Schul- bauten, Fitnesszentren, Theater- sälen und Schwimmbädern in der architektonischen Akzentsetzung überrundet. Und die Uhren an den Kirchtürmen verlieren manchmal die Stundenzeiger. Die Struktur des alten Dorfes ist in Frage gestellt.
	        

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