Liechtensteinische Geschichtswissenschaft
Dazu kommt ein Mangel an debattierfreudigen Interessierten:!? Das po-
tenzielle Publikum, für das man als Historiker schreibt, ist klein. Aller-
dings ist es sehr treu und, gemessen an der Grösse des Landes, durchaus
beachtlich. Denn auch viele Nicht-Akademiker und Nicht-Akademike-
rinnen, Fachfremde sowie einige ausländische Fans interessieren sich für
die Geschichte des Landes. So zählt der Historische Verein für das Fürs-
tentum Liechtenstein über ein Vielfaches mehr an Mitgliedern, als es
Geschichtsforschende in Liechtenstein gibt. Der Historische Verein hat
rund 750 Mitglieder. Umgerechnet auf die Gesamtbevölkerung Liech-
tensteins ist dies eine bemerkenswert hohe Zahl geschichtlich Interes-
sierter — wohl Weltrekord, möchte man meinen. Geschichte ist in Liech-
tenstein ein allgemein beliebtes Thema. Die «Liechtenstein Saga», der
Film von Jürgen Kindle über 300 Jahre liechtensteinische Geschichte,
lockte 2014/2015 Tausende von Zuschauerinnen und Zuschauern in die
Kinosäle des Landes.” Eine hohe Aufmerksamkeit geniessen in Liech-
tenstein auch Familienchroniken, Ortsgeschichten, heimatkundliche
Abhandlungen oder die Lebenserinnerungen älterer Leute.
Geschichtswissenschaftliche Kontroversen, die um ein Liechten-
stein-Problem kreisen würden, sind bis jetzt aber weitgehend ausgeblie-
ben. Gewisse Debatten entwickelten sich vor einigen Jahren rund um die
sogenannte Rotter-Entführung, bei dem im April 1933 zwei Jüdische
Personen einem rassistischen Anschlag liechtensteinischer Nationalso-
zialisten zum Opfer fielen,'* sowie um die Interpretation der frühneu-
zeitlichen Hexenverfolgung in der Grafschaft Vaduz und der Herrschaft
Schellenberg.’ Der Mangel an historischen Auseinandersetzungen und
Debatten mag auch damit zusammenhängen, dass Rezensionen zu
Liechtenstein-Büchern in der Regel harmlos sind und eher wie Miszel-
len daherkommen — man geht pfleglich miteinander um, denn man kennt
und begegnet sich im Land regelmässig.
Ein vierter Punkt ist der Mangel an Stellen, auf die sich Historike-
rinnen und Historiker bewerben könnten: Der Arbeitsmarkt ist sehr
12 Siehe Schremser, Erzählverhältnisse.
13 Laut Angaben des Produzenten, siehe www.jke.li/news (30. Mai 2017).
14 Siehe Geiger, Krisenzeit, Bd. 1, S. 342-358, Bd. 2, S. 51-60; Jud et al., Erstveröffentli-
chung; Kamber, Zusammenbruch; Quaderer / Binder, «Jener furchtbare 5. April 1933».
15 Siche Tschaikner, Hohenemser Schreckensherrschaft.
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