Christoph Maria Merki
senschaft umtreiben, auch am Beispiel Liechtensteins abhandeln, sei das
nun Wirtschaftsgeschichte,” Umweltgeschichte,® Migrations- und Ein-
bürgerungsgeschichte? oder Sozial- und Bildungsgeschichte.'® Befasste
sich die Geschichtswissenschaft früher etwa mit der Entstehung des
Bürgertums, der Herausbildung des Nationalstaates, mit Klassenkämp-
fen und der Industrialisierung, sind heute andere Themen aktuell, etwa
der Aufbau und die Krisen des Sozialstaates, die Emanzipation der Frau,
die Volksreligiosität oder der Umgang mit Minderheiten. Es besteht
allerdings immer die Gefahr, dass sich solche Untersuchungen in Liech-
tenstein im mikrohistorischen Klein-Klein verlieren. Fehlen tun hinge-
gen die ganz grossen Themen: Liechtenstein hat keinen Krieg vom Zaun
gebrochen; Liechtenstein hat kaum Persönlichkeiten hervorgebracht, die
man auch im Ausland zur Kenntnis nehmen müsste; Liechtensteins
Wirtschaft ist kaum mit Innovationen aufgefallen, die so exzeptionell
wären, dass sie wirtschaftshistorische Bedeutung erlangt hätten; die
Monarchie wird im Ausland eher als eigentümlicher Anachronismus zur
Kenntnis genommen und weniger als zukunftsweisendes Modell, wel-
ches das Zeug zum internationalen Vorbild hätte. Kurz und gut: Man
darf davon ausgehen, dass die Weltgeschichte auch ohne das Fürstentum
Liechtenstein nicht anders verlaufen wäre. Dieser Mangel an ganz gros-
sen Themen und an überregionaler Relevanz bringt es mit sich, dass sich
die internationale Forschungsgemeinschaft kaum für Liechtenstein inte-
ressiert: Es gibt nur wenige ausländische Historiker und Historikerin-
nen, die über Liechtenstein schreiben, und wenn, kam der Anstoss dazu
häufig aus dem Land selbst.!!
7 Zum Beispiel Ospelt, Wirtschaftsgeschichte; Merki, Wirtschaftswunder.
Broggi, Landschaftswandel.
9 Jansen, Amerika; Biedermann, Überzeugung; Marxer, Biirgerrechtskauf; Schwal-
bach, Bürgerrecht; Sochin D’Elia, Menschen.
10 Martin, Bildungswesen.
11 Dies war unter anderem der Fall bei den 1980 und 1984 vom Alemannischen Insti-
tut Freiburg beziehungsweise von der Universität Tübingen durchgeführten Tagun-
gen und Seminaren über die Geschichte und Landeskunde Liechtensteins (siehe
Müller [Hrsg.], Das Fürstentum Liechtenstein; Press / Willoweit [Hrsg.], Liechten-
stein) und bei den vom Historischen Lexikon des Fürstentums Liechtenstein in den
1990er-Jahren initiierten Liechtenstein-Seminaren an den Universitäten Freiburg i. Üe.,
Zürich, Innsbruck und Salzburg (daraus resultierten Brunhart [Hrsg.], Bausteine,
Bde. 1-3, und mehrere Diplomarbeiten).
oo
530