Gesellschaftliche Funktion der Geschichte
An dieser Stelle soll nochmals die Aufbruchstimmung angesprochen
werden, die der Krisenlage von 1918/1919 entsprang und sich schon
Ende 1917 im Buch von Leonhard Ragaz mit dem programmatischen
Titel «Die neue Schweiz» artikulierte.!* Es wird deutlich, dass sich in sol-
chen Momenten die Perspektive markant ändert: nicht mehr als Vergan-
genheitsorientierung auf eine aus ihr konstruierte nationale Identität,
sondern auf neue Spielräume als Chance für die Zukunft.’
Freilich können Krisen auch zur gegenteiligen Option führen, zum
forcierten Festhalten am Herkömmlichen oder eben zur Chiffre «Son-
derbund». So wird man sich damit abfinden müssen, dass es «die»
Schweizer Identität nicht gibt; stattdessen gab und gibt es verschiedene
unterschiedlich konnotierte Identitäten. In zeitlicher Abfolge sind es seit
1848 diejenigen von Konservativen und Freisinnigen, Arbeitern und
Bürgerlichen, Romands und Deutschschweizern, Frauen und Männern,
Alten und Jungen. Doch quer durch alle hindurch zeigen sich die zwei
genannten Grundmuster, zwischen denen sprachlich, regional, sozial
oder politisch unterschiedliche Identifikationsbemühungen und Selbst-
verständnisse oszillieren. Auf der einen Seite jenes der Offenheit — die
Chiffre «Völkerbund» —-, welches die Aufklärung oder zumindest ihre
geistige Elite, aber auch die Regeneration und ihre liberal-radikalen Trä-
ger sowie die Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg auszeichnete
und in den realen Völkerbund führte. In polemischer Form findet es sich
in der Vorstellung von den Bergen als Mauern eines Kerkers oder in
Friedrich Dürrenmatts Schweiz als Gefängnis'® und im Slogan der
1980er-Protestbewegung «Nieder mit den Alpen. Freie Sicht aufs Mit-
telmeer!». Auf der anderen Seite das Alpen- und Inselsyndrom, vom
Abkapselungsbemühen der Sonderbündler als den «wahren» Schwei-
zern zur Igelmentalität während und nach dem Zweiten Weltkrieg und
weiter zu den Abstimmungen von 1986 (Ablehnung des UNO-Beitritts)
und 1992 (Verwerfung des EWR-Beitritts) und insbesondere zur 2014
14 Ragaz, Die neue Schweiz.
15 Siehe Siegenthaler, Hirtenfolklore in der Industriegesellschaft.
16 «[...] weil sie nur im Gefängnis sicher sind, nicht überfallen zu werden, fühlen sich
die Schweizer frei, freier als alle andern Menschen, frei als Gefangene im Gefängnis
ihrer Neutralität. Es gibt nur eine Schwierigkeit für dieses Gefängnis, nämlich die,
zu beweisen, dass es kein Gefängnis ist, sondern ein Hort der Freiheit» (Dürren-
matt, Die Schweiz — ein Gefängnis, S. 19-20).
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