Carlo Moos
Schweiz als Sonderfall der Geschichte, eine Vorstellung, die nicht frei
war (und ist) von fremdenfeindlicher Ausschliesslichkeit und in die
Überzeugung einging, dass das Land durch die Neutralität, die Armee,
den General und den lieben Gott vor der Hölle des Zweiten Weltkriegs
gerettet worden sel.
Die Metaphern und Topoi vom Kreis der Alpen, von den wehrhaf-
ten Männern, den selbstlosen Frauen, dem kleinen Abbild der grossen
Welt mit seinen zeitlosen Werten, das gegen den Rest der Welt verteidigt
werden müsse, all dies fand sich auch im Vorfeld der Abstimmung über
den Beitritt der Schweiz zur UNO von 1986 wieder. In ihrem Ausgang
war diese Abstimmung das pure Gegenteil derjenigen zum Völkerbund
von 1920: eine selten wuchtige Ablehnung der Vorlage (rund 75 Prozent
Neinstimmen bei einer Stimmbeteiligung von etwa 50 Prozent), und lan-
desweit gleich wuchtig. Sogar in Genf, der europäischen UNO-Stadt par
excellence, fand die Vorlage keine Mehrheit, wie es auch keine sprachli-
che Minderheit gab, die die Deutschschweizer Ablehnungsfront durch-
brochen hätte. Weil das im Abstimmungskampf eingesetzte Argumenta-
rium nicht viel anders war als 1920, konnte es nicht daran liegen, dass das
Resultat konträr ausfiel, sondern musste tiefer mit dem Schweizer
Selbstverständnis zusammenhängen. Dieses scheint sich zwischen 1920
und 1986 in sein Gegenteil verkehrt zu haben, weg von der Chiffre «Völ-
kerbund» hin zur Chiffre «Sonderbund».'?
1848 waren die Gründer des Bundesstaates mit grosser Selbstver-
ständlichkeit davon ausgegangen, dass es «den» Schweizer zumindest als
Stimmbürger gebe — von der Schweizerin war sehr lange nicht die Rede.
Als es aber darum ging, dem Land eine Identität zuzuschreiben, gelangte
man rasch an Grenzen. Wenn etwa mit der Mundart operiert wurde (und
wird), erweist sich, dass es sich um ein deutschschweizerisches Bemühen
handelt, während es in Wahrheit um verschiedene Identitäten sprach-
lich-kultureller und schichtspezifischer Art gehen müsste. Eine gesamt-
schweizerische Identität kann im Sinne von Carl Spittelers Rede über
den Schweizer Standpunkt vom Dezember 1914! angesichts der Vielge-
stalt und Mehrsprachigkeit des Landes nur eine solche der Offenheit
sein, die überdies ständigen Veränderungen unterworfen wäre.
12 Siehe Moos, Ja zum Vélkerbund — Nein zur UNO.
13 Siehe Spitteler, Unser Schweizer Standpunkt.
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