Günther Boss
det werden konnte. Otto Hermann Pesch spricht gar von der «Leidens-
geschichte des Textes».'* Hier ist nicht Platz genug, um alle Stationen
dieser Geschichte nachzeichnen zu können. Wichtig sind wenigstens fol-
gende Hinweise: Die Urfassung wurde 1962 auf ausdrücklichen Wunsch
Johannes’ XXIII. ausgearbeitet. Die Intention des Konzilspapstes war es
gemäss Karl Rahner, «der Feindschaft zwischen Juden und Christen ein
für allemal ein Ende zu setzen».'* Allerdings waren die politischen
Umstände nicht günstig für das Dokument. Rahner resümiert knapp:
«Das Schema war gegen den Antisemitismus gerichtet und wurde auf
arabischen Druck hin zurückgezogen.»!” Nach zahlreichen Initiativen,
Interventionen, Debatten und Entwürfen wurde 1964 ein neuer Text
vorgelegt, der nun auch Ausführungen über andere nichtchristliche Reli-
gionen enthielt. «In dieser erweiterten Form wurde das Schema im
November 1964 grundsätzlich angenommen. Eine leicht abgeschwächte
Fassung wurde im Oktober 1965 den Einzelabstimmungen unterzogen
und gebilligt.»!* Die Schlussabstimmung am 28. Oktober 1965 ging mit
2221 Ja- gegen 88 Nein-Stimmen deutlich zugunsten von Nostra aetate
aus. Dass hier mehr Nein-Stimmen zu verzeichnen waren als bei allen
anderen Konzilsdokumenten, wird insbesondere von Kritikern der
Erklärung immer wieder gerne erwähnt.
Es mag heute als selbstverständlich erscheinen, dass Nostra aetate
das Christentum als eine Religion unter anderen Religionen ansprechen
kann. Diese Sichtweise ist auf dem Hintergrund des traditionellen kirch-
lichen Selbstverständnisses aber geradezu revolutionär. Etwas schema-
tisch und zugespitzt ausgedrückt, gingen die vorangehenden Konzilien
davon aus, dass es nur eine einzige wahre Religion geben könne, nämlich
das Christentum in Gestalt der katholischen Kirche. Entsprechend
bestand auch die Zielsetzung der kirchlichen Mission darin, die anderen
Religionen ihres Irrtums zu überführen und möglichst wirkmächtig
13 Pesch, Das Zweite Vatikanische Konzil, S. 294.
14 Rahner/Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, S. 349. Zu den biografischen
Hintergründen bei Johannes XXIII. in seinen persönlichen Begegnungen mit Juden
und dem Judentum siehe Pesch, Das Zweite Vatikanische Konzil, S. 292-294, sowie
Tick, Gottes Augapfel, S. 321-326.
15 Rahner/Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, S. 349.
16 Ebenda.
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